Statt Zicken nur Stuten in Zickra

Was für eine schöne Lesung, die ich gestern Abend gemeinsam mit Ophelia Hansen und Jana Huster im Hofcafé im Kulturhof Zickra mitgestalten durfte. Eine tolle Umgebung mit wunderbaren Gastgebern (Danke an Steffi und Falko), phantastischen Gästen, treuen Freunden, vielen angenehmen Gesprächspartnern und mit besten biologischen Bieren, deren Marke ich hier nicht nennen darf. Einer Erwähnung wert ist aber in jedem Fall der Likör, den ich mit den beiden Prachtstuten des adakia Verlages Ophelia und Jana im Anschluss an die Lesung getrunken habe. Der Stutenmilchlikör war gastronomisch die Krönung des Abends. Literarisch war es eine Freude, mit Ophelia und Jana abwechselnd Geschichten zu lesen. Nun freue ich mich auf die Wiederholung am 8. November 2013 auf dem Barockschloss Brandenstein, wenn es wieder textübergreifend heißt: Die Wahrheit liegt … zwischen den Zeilen.

Große Freude für den Autor: Ich signiere das Buch „Kap der guten Hoffnung“ für Gunter, nach dessen Fleisch ich in Zukunft trachten werde. (Zur Beruhigung: Er ist Bio-Bauer.)

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Einfach nur wunderbar gemütlich: Hofcafé im Kulturhof Zickra:

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Fotos: René – ich wünschte, ich wäre ein Server – H. (Danke!)

 

 

Die Krankheit zum Tode

»Das Leben ist ein zeitweiliger Sieg über die Ursachen, die zum Tode führen.«
Sylvester Graham

Im Warteraum der Praxis riecht es muffig. Die abgegriffenen Zeitschriften waren vor Jahren tagesaktuell und auf jeder Seite kann Paula Schöffler die Bakterien und Krankenakten aller Patienten fühlen. Paula ist fünfunddreißig, die Haare sind eine Spur zu fettig, die Haut ist angegriffen, in ihren Augen fehlt jeder Glanz und mit ihren gichtigen Fingern blättert sie gelangweilt durch die Magazine, ohne wirklich etwas wahrzunehmen. Gelangweilt überfliegt sie die Diätweisheiten, während sie sich in eine ihrer Speckrollen kneift und ihr Doppelkinn kratzt. Klappt sowieso nicht, der ganze Mist. Tausendmal probiert und es ist doch nur Verarsche. Am Ende ist man fetter als vorher. Die erste Aufregung in der Praxis hat sie bereits durch die Anmeldung hinter sich. Die Sprechstundenhilfe am Empfang hat mit einiger Sicherheit Vorfahren aus Targaryen. Mit jedem Satz, jeder Frage nach Chipkarte und Befinden, stößt sie kleine Rauchwolken aus ihren Nüstern und unter ihrem weißen Umhang richten sich auf ihrem Rücken deutlich sichtbar Flügel auf. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird Paula pünktlich eine Stunde nach dem vereinbarten Termin aufgerufen. Die Scheiße nimmt also kein Ende. Sie erhebt sich mürrisch und geht zum Sprechzimmer. Dort begrüßt sie der Doktor freundlich.
»Hallo Frau Schöffler, wir haben uns aber lange nicht gesehen! Wie geht es Ihnen?«
Sie gibt ihm die Hand, setzt sich, atmet tief durch und mustert den Herrn Doktor ausgiebig. Braun gebrannt, semmelblondes Haar, ein wacher Blick aus blauen Augen, ein paar, aber nicht zu viele Lachfalten. Alles in allem ein attraktiver Mittvierziger. Das Gejammer der Ärzteschaft über Budgetierungen und elementare Einschnitte bei den Leistungen der Krankenkassen scheint an ihm vorbeizugehen.
»Alles ist Scheiße, Herr Doktor«, entfährt es ihr schroff.
»Das ist nun doch sehr allgemein. Könnten Sie etwas genauer werden? Was fehlt Ihnen denn?«, fragt der Doktor, während er sich erste Notizen macht.
»Ich kann nicht mehr. Meine Arbeit ist Mist, es kotzt mich alles an. Die Vorgänge, die Kollegen und die Kohle stimmt auch nicht.«
»Soso. Ihre Arbeit also. Mögen Sie die gar nicht oder nur an manchen Tagen nicht?«
»Gar nicht!«, bescheidet sie ihm knapp. Sie schiebt ihre Unterlippe über die obere und ihre Stirn liegt in Falten. »Früher hat sie mir mal gefallen. Aber inzwischen fühlt sie sich nicht mehr gut an. Vielleicht sollte ich etwas anderes machen, vielleicht auch nicht. Ich weiß auch nicht.«
»Aha!«, sagt der Arzt, der in solchen Fällen immer »Aha!« sagt. »Und wie sieht es mit den Kollegen aus? Werden Sie gemobbt?«
»Nein. Aber die sind alle Arschlöcher.«
»Wenn Sie mehr Geld bekämen, würde das die Arbeit und die Arschlöcher erträglicher machen?«
»Wahrscheinlich nur, wenn es im Millionenbereich wäre und dann auch nur vorübergehend.«
»Aha! Wie sieht es in Ihrem Privatleben aus? Haben Sie nicht einen Partner, mit dem Sie sich austauschen können, der sie liebt und den Sie lieben? Kinder, bei denen Ihr Herz aufgeht? Und haben Sie ein Hobby, das Sie von Herzen gern ausüben?«
Ihr Kopf gewinnt an Farbe. Die Stimme an Kraft. »Der?! Der versteht mich doch gar nicht. Für den bin ich selbstverständlich. Und außerdem müsste der sich erst einmal gehörig ändern, damit ich ihn wieder lieben kann. Mit der Erziehung meines Mannes habe ich genug zu tun, da bleibt keine Zeit für ein zweites Kind. Und für ein Hobby habe ich erst recht keine Zeit.«
»Aha.« Der Doktor kaut auf einem Bleistift herum und wippt in seinem Stuhl. Dann beugt er sich zu ihr vor. »Darf ich das für Sie zusammenfassen? Zurzeit ergibt alles für Sie keinen Sinn, weil sie eine Arbeit haben, die Sie nicht mögen, Arbeitskollegen, die alle Arschlöcher sind und privat haben Sie einen Partner, den Sie lieben könnten, wenn er sich ändern würde. Sie müssen sich darüber hinaus um seine Erziehung kümmern, weshalb Sie für ein Kind keinen Raum sehen. Zeit für ein Hobby, das Ihnen Freude gegen könnte, haben Sie auch nicht. Sie fühlen sich insgesamt unverstanden, erschöpft und wissen nicht mehr weiter.«
Endlich mal einer, der sie versteht. »Richtig. Sagen Sie, habe ich einen Burn-Out?«
»Nein, keinesfalls. Sie leiden lediglich an Entscheidungsunfreundlichkeit. Sie machen alle anderen für Ihr eigenes Glück verantwortlich, wo Sie es doch selbst in der Hand haben, sich zu entscheiden und glücklich zu sein. Dafür müssten Sie aber zunächst einmal wissen, was Sie wirklich wollen. Auf Arbeit und im Privatleben. Wissen Sie das denn? Und wenn Sie das dann wissen, können Sie Entscheidungen treffen, um den Weg zu ebnen. Auf Arbeit kündigen, eine neue Arbeit anfangen, sich Ihres Partners wieder mehr bewusst werden, die Liebe neu entdecken oder aber ihn verlassen und sich frei machen. Vor allem für die Liebe für sich selbst, dann kommt der Rest von ganz allein.«
Er mustert sie noch einmal, um dann fortzufahren: »Nun, wissen Sie, was Sie eigentlich wollen?«
Sie überlegt eine Weile. Ihre Handflächen werden feucht und ihre Lippen zittern. Ihr Gesicht ist so bleich wie die fahle Visage ihres Mannes, in die sie jeden Morgen schauen muss. »Ich würde es bestimmt wissen, wenn die anderen mich nicht dauernd runterziehen würden. Bei mir ist alles in Ordnung! Meine Seele leidet nur unter den anderen.« Nachdem sie ihm dies beschieden hat, fühlt sie sich wieder sicher und schaut ihn herausfordernd an. Der Doktor wippt in seinem Designerdrehstuhl. Vor und zurück. Immer wieder. In ihm arbeitet es. Sie kann nicht sehen, was passiert, hat keine Ahnung, was hinter dieser faltenarmen Stirn vor sich geht, aber sie spürt es. Wenn sie nur genauer seine Emotionen lesen könnte, würde sie die Wut fühlen. Seine Enttäuschung, dass immer wieder Menschen dieser Art zu ihm kommen. Leute, die nicht verstehen, dass alles Leid, aller Kummer immer nur in ihnen selbst entsteht. Dass sie selbst der Schlüssel zur Lösung sind. Dass sie das aber nicht begreifen und wie unerleuchtete Idioten in Platons Höhle hocken und die Schatten der anderen für alles verantwortlich machen.
Zynisch entfährt es ihm: »Ihre Seele leidet unter den anderen, soso!«
Dann kaut er weiter auf dem Bleistift. Und wippt weiter im Stuhl vor und zurück. Deutlich energischer, denn sein Puls schnellt nach oben. Aber er ist erfahren genug, sich das nicht anmerken zu lassen. Immer nur die anderen, nie bei sich selbst anfangen. Es sind ihm die liebsten Patienten und die lassen ihm die grüne Galle hochkommen. Mit einem Ruck fährt er nach vorn und beugt sich weit über den Schreibtisch zu ihr und brüllt sie an:
»Ich hab’s! Ihre Seele leidet wirklich! Es ist wie beim Sex ohne Eindringen, verstehen Sie? Ihre Seele hat ein Vorspiel für das richtige Leben schon über Jahre. Während Sie glauben, dass die Nässe die pure Vorfreude auf das baldige Glück ist, sind es doch nur die Tränen der Seele. Und wissen Sie, warum Ihre Seele den lieben langen Tag nur weint?«
Dumpfes Unverständnis ihm gegenüber. Er hat es nicht anders erwartet. Paula Schöffler ist wie alle anderen auch. Sie wird die Wahrheit nicht vertragen, ja nicht einmal verstehen.
»Sie hat die ganze Zeit in Ihnen nur einen vorgetäuschten Organismus.«

F oder V, das ist hier die Frage!

Das Schöne an der Tätigkeit als Verleger und Autorenkollege ist, dass man die Texte der Verlagsmiezen früher zu lesen bekommt als die anderen. Das ist durchaus elitär und ich weiß diesen Umstand sehr zu schätzen. Ich habe immer die große Freude, die Texte von Ophelia Hansen und Jana Huster zu studieren. Dabei kam mir nun bei beiden, unabhängig voneinander, ein Text mit einem spirituell Erleuchteten vor die Augen. Der Herr wollte in den jeweiligen Läden, die Ophelia und Jana neben ihrer Schreiberei betreiben, Kunst ausstellen. Bei Ophelia wollte er zudem Unterleibsporträts inszenieren. Zum einen habe er dazu Kontakt zu einer Gynäkologin gesucht und zum anderen bat er Ophelia, für ihn »Modell zu spreizen«. Mal ganz abgesehen davon, dass ich Ophelia für diese Formulierung dankbar bin, finde ich die Idee des Herrn zum einen gar nicht schlecht. Zum anderen aber weiß ich als Gelegenheits-Sex-and-the-City-Schauer, dass es so etwas bereits gibt. Ich erinnere mich noch gut an die Folge, in der ein Maler übergroße »Porträts« weiblicher Geschlechtsteile in einer Ausstellung präsentierte. Dazu stellte er völlig ungeniert fest: »Die Wahrheit liegt in der Fotze!«.

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Mir wäre fast mein Feierabendwhiskey im Hals stecken geblieben, als ich das hörte, aber was bleibt zu sagen? Wo er recht hat, hat er recht, basta. Neben dem unbestrittenen Wahrheitsgehalt der Formulierung kam mir beim Notieren des Zitats die Frage in den Sinn: Wird das böse Wort eigentlich mit F oder V geschrieben? Zu solchen Fragen zieht man am Besten die Doktorenschaft zu Rate. Fotze kommt bei Dr. Google auf 7,79 Millionen Treffer. Und bei Dr. Duden gibt es ganz eindeutig nur die Fotze mit F.  Meinen Narzissmus pflegend, habe ich dann mal »Jischinski« beim Dr. Google eingegeben und komme nur auf 2.700 Treffer. Ich bin so weit weg von einer Fotze, wie man sich nur vorstellen kann. Ich war betrübt und bin es noch immer. Die gute »Votze« dagegen kommt bei Dr. Google auf 1,24 Millionen Treffer und bleibt im Duden unerwähnt. Mache ich es nun demokratisch bei Google? Gewonnen hat der mit der Mehrheit an Stimmen? Was mache ich dann mit der Riesenschar der Nichtwähler? Mit den ungehörten Stimmen all der Menschen, die nicht darüber befinden konnten: »F oder V, das ist hier die Frage!« Ich schließe mich einfach der Mehrheit an und bleibe dabei: »Die Wahrheit liegt in der Fotze!« Oder irgendwo dazwischen, wie Herr Bonmot sagen würde. Dann böte sich rein optisch aber wieder das V an. Als gespreiztes Modell gewissermaßen. Wir werden es wohl nie erfahren. Ich lasse mich einfach anrufen, wenn der nette Kerl wieder im Laden der beiden Verlagsmiezen steht. Mit dem kann man gut über so was reden, glaube ich. Bis dahin schaue ich mir die Suchergebnisse von Google im Bildbereich an. So viel Wahrheit auf einen Haufen habe ich noch nie gesehen.

Sonntagmorgen

In Ruhe Zeitunglesen ist ein großer Luxus. Entschleunigung par excellence. Wenn es dann noch an einem Sonntagmorgen geschieht, bleibt dem Auge auch genügend Zeit, um die wirklich kostbaren Zeilen zu erfassen. Zum Beispiel: »Liebe Heidi M., du hast keine Telefonnummer und keine Adresse hinterlassen. Bitte melde dich!«

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Soso, liebe Heidi M., so läuft das also! Einfach so auftauchen, die Welt und noch mehr versprechen, den Körper und Lust schenken, aber den Nachnamen kafkaesk verkürzen und nicht mal eine Rückrufnummer hinterlassen. Ich kenne dich, Heidi M.! Und, nur am Rande, das wäre Carlotta Spatz nicht passiert. Wie helfen wir dem armen Kerl nun? Es wird schwierig für ihn und alle anderen werden, Heidi M. zu finden. Wir bieten ihm einfach ein anderes Juwel auf derselben Seite an:
»Traumfrau, bildhübsch, klug, erotisch, 36, 172 cm, ohne Kinder, aus St. Petersburg, lernt englisch, sucht sehr großzügigen, wohlhabenden Mann (kann noch gebunden sein) um jeden Tag zu genießen.«

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Ich gebe zu, dass ich zunächst das Komma hinter »Kinder« überlesen habe. Das führte zu der drängenden Frage, ob die Frau nun wirklich kinderlos ist oder nur keine Bälger aus St. Petersburg hat. Doch glücklicherweise bemerkte ich meinen Irrtum. Sie ist das ganze Gegenteil von Heidi M.! Die gute Traumfrau aus St. Petersburg wird jeden Tag da sein und nicht einfach so gehen, ohne Telefonnummer und Adresse zu hinterlassen. Wer mag aber der großzügige, wohlhabende Mann (gern auch noch gebunden) sein, der (nennen wir sie) Tamara haben will? Die liebe Tamara, die reinen und offenen Herzens nach Deutschland kommt, um nach wahrer Liebe zu suchen und mit dieser jeden Tag zusammen sein will. Wir brauchen mehr von diesen Tamaras. Mehr von diesen offenen Herzen und anderen offenen Wunden, die es pflegend zu versorgen gilt. Man möchte die Seite schon fast zuschlagen, weil so viel Unglück, zu viel unerfüllte Liebe die Tränen in die Äuglein treibt. Doch dann kommt endlich die Rettung! Sie thront in Spalte fünf ganz oben:
»Maria, 74, seit einem Jahr Witwe, eine einfache, aber sehr hübsche Frau, mit weiblicher Figur und schöner Oberweite, finanziell gut versorgt. Ich koche gern und gut, bin fleißig in Haus und Garten. Welcher Mann, gerne auch älter – hier aus der Gegend – möchte auch nicht mehr einsam sein? Wäre umzugsbereit, habe eigenes Auto und gute Rente. Darf ich zu Ihnen kommen? Dann rufen Sie an …«
Pah! Die biblische Maria, nicht nur vom Namen, sondern auch vom Alter her, sticht klar die schnoddrige Heidi M. und die hureske Tamara aus! Wenn man die Wahl hat zwischen einer finanziell prächtig versorgten Frau, die gut kocht, deren verwitwetes Bett noch nicht ganz erkaltet ist und die einem beim Teigkneten an die mütterlich schöne Oberweite drückt, bleiben One-Night-Heidi-M.-Stands und erotische Tamaras aus der Heimat Raskolnikows auf der Strecke. Würde der von Heidi M. verlassene bei Herzblatt sitzen, fiele die Wahl doch leicht. Und, ganz ehrlich, 74 Jahre, was ist das schon? Wenn es nur noch ein paar Jahre sind, bleibt zumindest vom finanziell gut versorgt sein genügend Geld übrig, um es noch einmal bei Tamara zu versuchen. Oder aber die Zeit ist reif für die Rückmeldung von Heidi M. Liebe ist immer auch Hoffnung.

Der Suppenkasper

Ich glaube, dass ich diese Erklärung heute zum hundertsten Mal abgebe. Vielleicht habe ich heute einmal Glück, und es hört mir tatsächlich jemand zu. So richtig. So, wie man zuhört, wenn man den anderen wirklich verstehen will. Nachdem ich vor ein paar Wochen allein am Strand von Brighton gefunden wurde, brachte man mich zuerst ins Krankenhaus, dann zur Polizei und schließlich in das, was Sie ein Irrenhaus nennen. Dort machte ich wieder und wieder dieselben Angaben, ohne dass mir auch nur ein Mensch wirklich zuhörte und es für möglich hielt, dass ich die Wahrheit sage. Sie pressten mich in ein gewisses Schema und seitdem verbringe ich meine Tage mit Menschen, die glauben, sie seien wahlweise J.F. Kennedy oder sein Mörder. Mit mir kann niemand etwas anfangen, weil meine Geschichte nicht dem üblichen Muster entspricht. Sicher, ich lag drei Tage lang im Krankenhaus im Koma und erinnerte mich danach an nichts. Doch dann kam alles wieder. Die Bilder meines Lebens bauten sich wie auf einer Leinwand wieder auf, die Geschichte meiner Eltern und meiner Gesellschaft, die Rahmenbedingungen, die gesamte Historie, die ich kenne. Um es noch einmal zu betonen: Ich lebte in einer technologisch ähnlichen Gesellschaft wie Sie. Aber es gab die vielen unnützen Sachen nicht und wir Menschen lebten im absoluten Gleichgewicht. Nicht nur in dem zwischen Mensch und Natur. Nein, wir hatten vor allem ein inneres Gleichgewicht. Wir wussten um uns und unser Bewusstsein war so groß und rein, dass es etwas außerhalb unserer Balance nicht gab. Wir wussten auch, dass Emotionen ihren Ursprung nicht in einer anderen Person hatten, sondern ausschließlich in uns selbst. Deshalb klärten wir alles mit uns selbst. Es gab nichts, was wir achtlos in uns hineinfraßen, ob nun mental oder über die Nahrung tatsächlich. Elementare Störungen unserer Balance, die sich in Schmerz und Krankheit niederschlugen, kannten wir nicht. Und weil wir im Kern immer bei uns waren, konnten wir auch im Außen gerecht und im Einklang mit unserer Umwelt leben. Die Erde lebte mit uns und wir lebten mit ihr. Nun stehe ich aber vor Ihnen und das Einzige, was Sie zu tun haben ist, mich zu hinterfragen, meine Geschichte so schnell wie möglich ad absurdum zu führen, mich unglaubwürdig zu machen und im besten Fall auf ewig im Irrenhaus zu lassen. Dann haben Sie das Problem gelöst und Sie können es im »Außen« unter den Tisch kehren und müssen den Blick wieder einmal nicht nach innen wenden. Dabei brauchen Sie sich wirklich nur einmal umzuschauen. In jede Richtung. Ob es nach außen in ihre beschädigte, sterbende Umwelt ist. Oder nach innen, zu Ihrer falschen, völlig technisierten Ernährung, Ihrem Verhältnis zu Nachhaltigkeit und Wohlstand. Aber vor allem wenn es um Ihren Kern geht, also um Ausgeglichenheit, um Werte, Ihre Selbstbestimmung und Ihre Selbstverantwortung. Wenn ich all das sehe und mit dem Leben in meiner Welt vergleiche, wird mir schlecht und ich glaube, dass es sogar eine gute Wahl ist, im Irrenhaus zu bleiben. Vielleicht schaffen Sie es noch. Ein paar Menschen werden schon immer klarer aus sich selbst heraus. Keine faulen Lumpen, die Schuld und Verantwortung immer nur bei anderen suchen, um sich dann über die mangelnde Qualität des eigenen Lebens zu beschweren. Aber es sind nur ein paar Tausend. Und wie viele Menschen sind Sie nun? Sieben Milliarden. Meine Güte! Glauben Sie wirklich, dass die Erde Sie trägt, dass dieser Planet Sie verträgt? Bevor Sie nun aber nur auf mir herumhacken und mich wohlbehalten wegschließen, will ich Ihnen sagen, dass ich nicht ohne Grund hier bin. Ich kann Ihnen nicht alles hinter meiner Geschichte erklären. Sie sollten sich am Besten aber Ihr eigenes Bild machen.
Es war der vierzigste Geburtstag eines Freundes, den wir mit vielen Freunden und Bekannten verbrachten. Es gab keinen Alkohol und keine unerlaubten Drogen, wirklich nichts. Die bewusstseinserweiternden Sachen wie Cannabis oder Meskalin wurden bei uns von Schamanen eingesetzt, um uns noch näher ans Licht zu bringen. Nichts Schändliches oder Verbotenes also und zum Geburtstag noch viel weniger. Doch nach der Nacht war das Aufwachen einfach nur bestialisch. Mein Kopf dröhnte, meine Augen brannten, meine Glieder schmerzten. Zu allem Überfluss war mein Bett hart wie Stein. Als ich endlich wenigstens zu einem Bruchteil wieder Herr über meine Sinne wurde, und sich meine Augen zu kleinen Sehschlitzen formten, begriff ich, warum sich mein Bett hart wie Stein anfühlte: Ich lag auf einem Felsen! Ich war mir aber absolut sicher, in meiner Wohnung und in meinem Bett zu liegen! Nach einer zünftigen Party mit bewusstseinserweiternden Drogen, ja, sicher, aber wo war ich nur? War ich schon im Nirwana? Hatte ich derart ins Licht geschaut, dass mir mein Verstand selbst den letzten hoffnungsvollen Realitätssinn raubte? Ich beschloss, dass ich in der Nacht zuvor gestorben sein musste. Es war die einzig logische Erklärung. Gleich würde Petrus zu mir kommen, mir ein paar Fragen stellen und dann entscheiden, ob ich nach oben oder unten durfte.
Da huschte eine merkwürdige Gestalt durch mein Blickfeld. Ich setzte mich auf, stellte mich auf meine zittrigen Beine und folgte ihr. Es war so furchtbar warm und die Sonne drückte auch die letzten Tropfen Schmerz an die Oberfläche meiner Haut. Um mich herum gab es nur Felsen, müde vor sich hinbrodelnde Vulkane, keine Pflanze, kein Tierchen, nichts.
Ich schlich mich hinter einen Felsen und beobachtete die Gestalt. Eine Frau in einem merkwürdigen Gewand. Eine weiße Kutte mit einer roten Kordel. Und sie strahlte. War sie das Licht, nach dem wir suchten? Geradezu majestätisch stellte sie sich vor eine kleine Felsmulde, hockte sich darüber und pinkelte freudestrahlend hinein. Als sie fertig war, besah sie ihre kleine Pfütze mit eindeutigem Stolz, sie ging um sie herum, sprang von einem Bein auf das andere und sang beschwingt. Mir war so warm, ich bekam immer mehr Durst und meine Lippen trockneten aus. Grindig kamen sie mir vor, die Hautplättchen schälten sich ab, ich schwitzte immer mehr. Wasser, Wasser! Die Dame entfernte sich und ich verlor sie aus den Augen. Dann durchstreifte ich langsam mein Nirwana. Noch immer konnte ich nicht erfassen, ob das nun Realität, ob ich immer noch voller Meskalin war oder was auch immer. Nach einer reichlichen Weile, ich schätzte sie so an die fünf oder sechs Stunden, konnte ich nicht mehr. Ich setzte mich erschöpft auf einen kleinen Felsvorsprung. Nichts war hier, rein gar nichts. Nichts zu trinken und von Nahrung ganz zu schweigen. Weder tierisch, noch pflanzlich. Es musste die Hölle sein, es gab sie also wirklich. Dabei gab es keinen Richter, keinen Petrus, gar nichts. Woran ich wohl gestorben war? Ich hatte keine Erklärung, trotzdem ich wieder bei Bewusstsein und völlig klar war. In einiger Entfernung sah ich eine kleine Pfütze spiegelnd verdampfen. Ich kroch zu ihr hinüber und war so glücklich. Über einer kreisrunden Fläche mit einem Durchmesser von knapp einem Meter verteilte sich eine vergilbte Flüssigkeit. Egal, was es war, ich hatte den Durst meines Lebens. Ich beugte mich hinunter und hob mit meinen Händen wieder und wieder eine kleine Menge zu meinem Mund und trank gierig. Es schmeckte abscheulich, irgendwie verwest, abgestanden, säuerlich-bitter. Wie ich den letzten Tropfen wegleckte, nahm ich im Augenwinkel links von mir einen Schatten wahr. Ich drehte mich langsam um und blinzelte der Dame von vorhin entgegen.
»Was bildest Du dir eigentlich ein?« Das klang gar nicht nett und das Strahlen ihres Gewands war auch dahin. Ihr Engelsgesicht war zu einer Faust geballt und das blonde Haar verlief ins grelle Rot.
Meine Kehle schmerzte. Flüsternd antwortete ich: »Wieso? Nichts, ich habe Durst.«
Sie zischte mich an: »Aha, der Herr hatte also Durst! Und was glaubt er, hat er gerade getrunken?«
Ein unheilschwangerer Gedanke durchzuckte meinen Kopf. Es wird doch nicht ihr Urin gewesen sein, den sie am Morgen in dieses Loch gelassen hatte? Aber diese Gegend! Sie sah doch so anders aus! Oder nicht? Ich konnte es nicht sagen, beim besten Willen nicht. Ich war gefühlt zehn Kilometer und mehr über diesen öden Planeten geschlichen und es mochte sein, dass ich mich im Kreis bewegt hatte, doch sicher war ich mir nicht.
»Abgestandenes Wasser vielleicht?«, antwortete ich vorsichtig.
Sie trat näher zu mir heran und betrachtete mich ausgiebig.
»Du siehst komisch aus. Wo kommst du her?«
Ich wollte mir gerade ein paar Dinge zusammenstottern, die ich selbst noch nicht so recht begriff, als sie mir ins Wort fiel. »Sag am besten gar nichts, ich weiß es ja schon. Du warst gestern noch in einer wunderbaren Welt, aus der du nach dem Genuss unerlaubter Substanzen hier wieder aufgewacht bist. Ein paar Millionen Jahre früher, aber im Grunde am selben Ort.«
Ich riss meine Augen auf und sagte: »Wie viele Jahre früher am selben Ort?!«
Sie blickte zu mir, hob die Augenbrauen nacheinander und schaute eindringlich. »Wie dem auch sei. Zeitkonvergenz hin oder her, das würdest du sowieso nicht verstehen. Aber hat denn der Herr in der Schule gut aufgepasst?«
»Naja, ging schon so.«
»Wie entstand die Welt?« So eine blöde Frage aber auch! Als wenn sich nicht schon genug Leute darüber ausgelassen hatten, Bücher gefüllt und gestritten hätten. Und da fragte diese wundersame Person nun gerade mich! Wer war sie überhaupt? Und was sie sich einbildete!
»Wenn man mal von religiösen Überlegungen absieht, hätte ich die Urknalltheorie anzubieten.«
»Gut aufgepasst, Jungchen! Und was war danach, woraus entwickelte sich das Leben?«
Ich schluckte hörbar und hatte plötzlich einen schwerwiegend bedrückenden Verdacht. Es würgte mich und gleichzeitig zog es mir den Hals zu. Ich stotterte: »Aus der Ursuppe vielleicht?«
»Aus der Ursuppe, natürlich, woraus denn sonst?? Und möge der Herr sich mal umsehen? Gibt es hier vielleicht irgendwo eine Ursuppe? Na?«
»Nein. Weit und breit keine.«
»Hat’s wenigstens geschmeckt, den Durst gestillt?« Sie setzte sich hin und stampfte mit ihren Füßen auf die Erde. Dann schrie sie voller Zorn: »Das darf doch nicht wahr sein. Jahrelang bereite ich mich vor, ernähre mich gesund, treibe Sport und verzichte auf alles, was Spaß macht und nun kommt dieser Idiot und säuft mir die Ursuppe weg!« Sie sah mich grimmig an.
»Jetzt schauen Sie mich nicht so an! Ich kann nichts dafür! Gestern lebte ich noch in meiner Welt im 21. Jahrhundert und war glücklich. Nun bin ich hier, habe Durst und weiß rein gar nichts. Eigentlich will ich nur noch heim.«
»Och der Kleine, jammerndes Weichei! Will nach Hause zu Mama! Du spinnst wohl? Du kommst wieder nach Hause, wenn du den Schaden hier repariert hast, oder was glaubst du, soll ich meinem Vater sagen, wenn ich das hier vermasselt habe?
»Was vermasselt?«
»Ach nichts, du Dummerchen, nur die Entstehung der Welt, des Lebens, vielleicht irgendwann von dir!«
Und plötzlich dämmerte es mir. Heilige Scheiße, ich hatte gerade die Grundlage meiner eigenen Existenz ausgesoffen! Die gesamte Welt lag in meinem Schlund. Ich schwitzte sie heraus und vernichtete damit ihre Grundlage!
»Kann ich das irgendwie wieder gutmachen?«
»Er findet sich wohl auch noch witzig, was? Ich habe ganze Galaxien bereist, um einen geeigneten Nistplatz für dieses Experiment des Lebens zu finden. Und nun kommst Du und willst es mal eben wieder gutmachen! Doch wenn ich dich so sehe, ist es vielleicht gut, dass es nichts wird. Dann eben woanders!«
»Aber warten Sie doch bitte. Ich meine, wenn ich es getrunken habe, muss es dann nicht wieder raus und könnten wir es dann nicht wieder verwenden?«
Sie stand auf, stellte sich direkt vor mich und zeigte mit dem Finger auf mich. »Möglich ist alles. Das Leben bahnt sich seinen Weg. Aus dieser Ursuppe wäre eine faszinierende Welt geworden, glaube mir. Fressen und gefressen werden, leben und leben lassen. Und dazu eine Spezies, die Göttliches und Tierisches in sich vereint, es aber schaffen wird.«
»Ja«, falle ich ihr ins Wort, »das wird auch so werden. Unser Leben ist ganz wundervoll.«
»Es war ganz wundervoll. Verabschiede dich davon. Es kann unmöglich wieder so werden. Du hast den Lauf der Dinge verändert. Nun mach’ das Beste draus und lebe wohl!«
Und plötzlich war sie nicht mehr da. Einfach so. Ich setzte mich auf einen Stein und war so hoffnungslos überfordert. Diese wunderbare Welt des Einsseins, der Balance von allem, hatte ich aufs Spiel gesetzt. Ich war am Boden zerstört und wusste keinen Ausweg.
Ein paar Stunden später musste ich mich entleeren. Mit allem Drum und Dran. Ich hockte mich an den Rand der Senke im Felsen und entleerte mich. Als ich fertig war, wurde ich ohnmächtig.
Ich wachte an einem Strand auf, wo ich auch gefunden wurde. Nach drei Tagen kehrte mein Gedächtnis zurück. Ihre Welt habe ich nun kennengelernt. Glauben Sie mir bitte, ich würde sie jederzeit gegen meine alte eintauschen. Leider glauben Sie mir nicht und ich muss nach dieser Erklärung wieder zurück in meine Zelle. Zu den Doktoren, die sich über mich wundern, weil ich Ihnen sage, dass es doch keine Ursuppe war, sondern diese Welt aus einem Haufen Scheiße entstanden ist. Dass mir meine Welt fehlt und ich gern wieder im Gleichgewicht wäre. Wenn ich mich aber umschaue, sehe ich, dass wir das hier nicht schaffen. Wir beuten diesen Planeten aus, wie es ein Virus mit seinem Wirt tut. Menschen verhalten sich schlimmer als Tiere und nur ganz wenige sind erleuchtet. Es ist wohl der einige Segen, den ich habe, dass ich zurückgehen kann ins Irrenhaus. Zu meinen neuen Freunden, die mich liebevoll den Suppenkasper nennen. Die aber alle wissen, dass ich keinen Unsinn erzähle.

Männer im Büro II

Zwei Wochen später stehe ich auf einem leeren Bahnsteig. Der eisige Wind schneidet mir dicke Kerben ins Gesicht und ich finde es sehr schade, dass ich nicht für ein paar Sommertage bei diesem Seminar an der Ostsee einspringen darf. Vielleicht kann Krautkrämer nur wegen der widrigen herbstlichen Bedingungen nicht. Ist ja auch nicht mehr der Jüngste, der Helmut. Die drei anderen Menschen, die mit mir in den Zug einsteigen, beweisen mir, dass ich in die absolute Pampa fahre, um das Seminar zu besuchen. Ist vielleicht nichts Schlechtes, sage ich mir, mich selbst ermutigend und über den Schmerz in meinem Gesicht hinwegtröstend. Dann bleibt wenigstens die volle Konzentration bei den Inhalten.
Meine Tasche liegt auf dem Platz neben mir und ich kann mich täuschen oder nicht, ich sehe die Einladung, obwohl sie unter meinen Hosen, Hemden und Schuhen ganz unten liegt, ganz deutlich vor meinen Augen. Komisch, denke ich bei mir. Ich werde also durch ein Kommunikationsseminar ein besserer Zuhörer und Redner. Für einen Moment kann ich dabei ausblenden, was ein Zauberkommunikator in der Kreditorenbuchhaltung eines mittlerweile international tätigen Konzerns verloren hat. Aber der Vorteil von Firmen dieser Größe ist nun einmal, dass ziemlich oft die linke Hand nicht weiß, was die rechte gerade tut. Ganz abgesehen davon, dass es in jeder Abteilung ungefähr zehn linke und rechte Hände gibt, die von der Existenz der anderen in etwa so viel wissen, wie wir von intelligentem Leben im All. Außerdem war Krautkrämer auch schon bei Seminaren dieser Art und aus ihm ist nachweislich kein anderer, geschweige denn besserer Kommunikator oder Mensch geworden. Und so wird wohl auch aus mir kein Heilsbringer der Worte und keiner dieser Hokuspokus-Menschen werden. Vielleicht wird es aber ganz anders und ich werde zu einem Mensch, einem ganz Besonderen. Einem, wie ich schon immer sein wollte. In nur wenigen Tagen wird sich mein Leben ändern und ich kann andere Menschen mit meinen verbalen Kunststücken erfreuen, vielleicht sogar verändern. Aber, denke ich bei mir, wollen sich die Menschen wirklich ändern? Und ist es überhaupt möglich, sie zu verändern? Der einzige Mensch, der das Leben von anderen wirklich ändern kann, ist der Henker. Die erste Veränderung, die ich bemerke, ist die, dass ich sofort einschlafe. Toller Trick.
Ein gefühltes Wirtschaftsjahr später wache ich auf und reibe mir die Augen. Das Zugabteil ist mit einigen Menschen mehr gefüllt. Manche unterhalten sich angeregt, die meisten aber sitzen möglichst allein und mit größerem Abstand voneinander und lesen oder hören Musik. Die Luft ist erfüllt von dieser abgestandenen Wärme, die aus Schweiß, Imbissen und der Melange aus vielen individuellen Menschsgerüchen genährt wird. Im Waggon vor mir kann ich den Schaffner entdecken. Langsam bahnt er sich seinen Weg durch die Passagiere, die ihm ihre Fahrscheine wie Opfergaben entgegenhalten. Direkt vor mir auf dem Tisch sehe ich eine Mücke. Der Klimawandel lässt grüßen. Es ist draußen klapperkalt, aber vor mir sitzt eine Mücke. Doch es sind nicht die Gedanken an die Erderwärmung und ein besseres Umfeld für Insekten, die mich beschäftigen. Vielmehr sehe ich die Mücke genau an und versuche, ihre Flügel zu erkennen. Ich schaffe es nicht. Weil ich nicht in der Lage dazu bin. Das menschliche Auge kann Bewegungen bis zu einer Hundertstel Sekunde wahrnehmen. Alles Schnellere wird zu einer Bewegung zusammengefasst. Dabei bewegen sich die Flügel der Mücke eintausend Mal pro Sekunde. Bloß wir können es nicht sehen.  Wenn sich also neben der Mücke ein Geschöpf in einer noch größeren Geschwindigkeit bewegt, können wir es nicht sehen, obwohl es da ist. Wissenschaftler können die Zeit bis auf eine Planck-Sekunde herunterrechnen. Aber eben nur rechnen. Es sind wohl 10 hoch minus 43 Sekunden. Verdammt wenig. Und verdammt weit außerhalb unserer Wahrnehmung. So eine Reise zu einem Seminar vertreibt mir endlich einmal die blöden Gedanken wie Offene-Posten-Listen-Ausgleich und Skontonachforderungen aus meinem Kopf und macht Platz für das, was wirklich wichtig ist. War es nicht auch so, dass es die Gegenwart für uns eigentlich nicht gibt? Weil wir alles, was passiert, immer mit einer gewissen Verzögerung, wenn auch nur zwei hundertstel Sekunden später, mit unseren Sinnen wahrnehmen? Weil unser Hirn akustische und optische Signale zusammensetzt, obwohl wir sie eher hören, als sehen können? Und ich muss mich immer wieder damit zufriedengeben, dass eine Sollbuchung immer eine gleich hohe Habenbuchung nach sich zieht. Was für eine Wahrheit! Eine von Menschengeist geschaffene, mehr nicht. Aber die wirklich entscheidenden Wahrheiten werde ich an meinem Schreibtisch nicht finden können. In einem T-Konto so wenig wie in einem Spezialkontenrahmen. Und in Krautkrämers Weisheiten noch viel weniger.
»Ihre Fahrkarte bitte.« Der Kontrollmessias steht vor mir und brummelt diese Worte durch seinen schwarzen Rauschebart.
Ich greife in meine Jackentasche und reiche ihm meine Papier gewordene Daseinsberechtigung für den Zug entgegen. Er schiebt sie in seinen Locher und hält dann in seiner Bewegung inne.
»Oh, junger Mann, da haben Sie wohl vergessen auszusteigen. Sie hätten in Berlin umsteigen müssen. Nun sind wir kurz vor Hamburg.«
Flattert da neben ihm ein Harlekin in einer nun doch wahrnehmbaren Geschwindigkeit und lacht sich halb tot? Lacht er in sich hinein und ist er verbündet mit bösen Mächten, die nicht wollen, dass ich mit Helmut Krautkrämer über die Möglichkeiten zwischenmenschlicher Kommunikation schwadroniere? Dass ich nicht erkennen soll, wie viel Informationsgehalt der Warenkorb einer allein einkaufenden Frau in einem Supermarkt hat? Ob es Unterschiede zwischen allein einkaufenden Frauen bei Lidl oder Rewe gibt? Die Welt scheint sich gegen mich verschworen zu haben, aber ich werfe einen geringschätzigen Blick auf den Harlekin und dann auf den Schaffner.
»Na dann steige ich wohl mal in Hamburg aus!«, flöte ich ihm ins Antlitz, während ich meine Tasche greife und an ihm vorbei zur Tür laufe.