Ich glaube, dass ich diese Erklärung heute zum hundertsten Mal abgebe. Vielleicht habe ich heute einmal Glück, und es hört mir tatsächlich jemand zu. So richtig. So, wie man zuhört, wenn man den anderen wirklich verstehen will. Nachdem ich vor ein paar Wochen allein am Strand von Brighton gefunden wurde, brachte man mich zuerst ins Krankenhaus, dann zur Polizei und schließlich in das, was Sie ein Irrenhaus nennen. Dort machte ich wieder und wieder dieselben Angaben, ohne dass mir auch nur ein Mensch wirklich zuhörte und es für möglich hielt, dass ich die Wahrheit sage. Sie pressten mich in ein gewisses Schema und seitdem verbringe ich meine Tage mit Menschen, die glauben, sie seien wahlweise J.F. Kennedy oder sein Mörder. Mit mir kann niemand etwas anfangen, weil meine Geschichte nicht dem üblichen Muster entspricht. Sicher, ich lag drei Tage lang im Krankenhaus im Koma und erinnerte mich danach an nichts. Doch dann kam alles wieder. Die Bilder meines Lebens bauten sich wie auf einer Leinwand wieder auf, die Geschichte meiner Eltern und meiner Gesellschaft, die Rahmenbedingungen, die gesamte Historie, die ich kenne. Um es noch einmal zu betonen: Ich lebte in einer technologisch ähnlichen Gesellschaft wie Sie. Aber es gab die vielen unnützen Sachen nicht und wir Menschen lebten im absoluten Gleichgewicht. Nicht nur in dem zwischen Mensch und Natur. Nein, wir hatten vor allem ein inneres Gleichgewicht. Wir wussten um uns und unser Bewusstsein war so groß und rein, dass es etwas außerhalb unserer Balance nicht gab. Wir wussten auch, dass Emotionen ihren Ursprung nicht in einer anderen Person hatten, sondern ausschließlich in uns selbst. Deshalb klärten wir alles mit uns selbst. Es gab nichts, was wir achtlos in uns hineinfraßen, ob nun mental oder über die Nahrung tatsächlich. Elementare Störungen unserer Balance, die sich in Schmerz und Krankheit niederschlugen, kannten wir nicht. Und weil wir im Kern immer bei uns waren, konnten wir auch im Außen gerecht und im Einklang mit unserer Umwelt leben. Die Erde lebte mit uns und wir lebten mit ihr. Nun stehe ich aber vor Ihnen und das Einzige, was Sie zu tun haben ist, mich zu hinterfragen, meine Geschichte so schnell wie möglich ad absurdum zu führen, mich unglaubwürdig zu machen und im besten Fall auf ewig im Irrenhaus zu lassen. Dann haben Sie das Problem gelöst und Sie können es im »Außen« unter den Tisch kehren und müssen den Blick wieder einmal nicht nach innen wenden. Dabei brauchen Sie sich wirklich nur einmal umzuschauen. In jede Richtung. Ob es nach außen in ihre beschädigte, sterbende Umwelt ist. Oder nach innen, zu Ihrer falschen, völlig technisierten Ernährung, Ihrem Verhältnis zu Nachhaltigkeit und Wohlstand. Aber vor allem wenn es um Ihren Kern geht, also um Ausgeglichenheit, um Werte, Ihre Selbstbestimmung und Ihre Selbstverantwortung. Wenn ich all das sehe und mit dem Leben in meiner Welt vergleiche, wird mir schlecht und ich glaube, dass es sogar eine gute Wahl ist, im Irrenhaus zu bleiben. Vielleicht schaffen Sie es noch. Ein paar Menschen werden schon immer klarer aus sich selbst heraus. Keine faulen Lumpen, die Schuld und Verantwortung immer nur bei anderen suchen, um sich dann über die mangelnde Qualität des eigenen Lebens zu beschweren. Aber es sind nur ein paar Tausend. Und wie viele Menschen sind Sie nun? Sieben Milliarden. Meine Güte! Glauben Sie wirklich, dass die Erde Sie trägt, dass dieser Planet Sie verträgt? Bevor Sie nun aber nur auf mir herumhacken und mich wohlbehalten wegschließen, will ich Ihnen sagen, dass ich nicht ohne Grund hier bin. Ich kann Ihnen nicht alles hinter meiner Geschichte erklären. Sie sollten sich am Besten aber Ihr eigenes Bild machen.
Es war der vierzigste Geburtstag eines Freundes, den wir mit vielen Freunden und Bekannten verbrachten. Es gab keinen Alkohol und keine unerlaubten Drogen, wirklich nichts. Die bewusstseinserweiternden Sachen wie Cannabis oder Meskalin wurden bei uns von Schamanen eingesetzt, um uns noch näher ans Licht zu bringen. Nichts Schändliches oder Verbotenes also und zum Geburtstag noch viel weniger. Doch nach der Nacht war das Aufwachen einfach nur bestialisch. Mein Kopf dröhnte, meine Augen brannten, meine Glieder schmerzten. Zu allem Überfluss war mein Bett hart wie Stein. Als ich endlich wenigstens zu einem Bruchteil wieder Herr über meine Sinne wurde, und sich meine Augen zu kleinen Sehschlitzen formten, begriff ich, warum sich mein Bett hart wie Stein anfühlte: Ich lag auf einem Felsen! Ich war mir aber absolut sicher, in meiner Wohnung und in meinem Bett zu liegen! Nach einer zünftigen Party mit bewusstseinserweiternden Drogen, ja, sicher, aber wo war ich nur? War ich schon im Nirwana? Hatte ich derart ins Licht geschaut, dass mir mein Verstand selbst den letzten hoffnungsvollen Realitätssinn raubte? Ich beschloss, dass ich in der Nacht zuvor gestorben sein musste. Es war die einzig logische Erklärung. Gleich würde Petrus zu mir kommen, mir ein paar Fragen stellen und dann entscheiden, ob ich nach oben oder unten durfte.
Da huschte eine merkwürdige Gestalt durch mein Blickfeld. Ich setzte mich auf, stellte mich auf meine zittrigen Beine und folgte ihr. Es war so furchtbar warm und die Sonne drückte auch die letzten Tropfen Schmerz an die Oberfläche meiner Haut. Um mich herum gab es nur Felsen, müde vor sich hinbrodelnde Vulkane, keine Pflanze, kein Tierchen, nichts.
Ich schlich mich hinter einen Felsen und beobachtete die Gestalt. Eine Frau in einem merkwürdigen Gewand. Eine weiße Kutte mit einer roten Kordel. Und sie strahlte. War sie das Licht, nach dem wir suchten? Geradezu majestätisch stellte sie sich vor eine kleine Felsmulde, hockte sich darüber und pinkelte freudestrahlend hinein. Als sie fertig war, besah sie ihre kleine Pfütze mit eindeutigem Stolz, sie ging um sie herum, sprang von einem Bein auf das andere und sang beschwingt. Mir war so warm, ich bekam immer mehr Durst und meine Lippen trockneten aus. Grindig kamen sie mir vor, die Hautplättchen schälten sich ab, ich schwitzte immer mehr. Wasser, Wasser! Die Dame entfernte sich und ich verlor sie aus den Augen. Dann durchstreifte ich langsam mein Nirwana. Noch immer konnte ich nicht erfassen, ob das nun Realität, ob ich immer noch voller Meskalin war oder was auch immer. Nach einer reichlichen Weile, ich schätzte sie so an die fünf oder sechs Stunden, konnte ich nicht mehr. Ich setzte mich erschöpft auf einen kleinen Felsvorsprung. Nichts war hier, rein gar nichts. Nichts zu trinken und von Nahrung ganz zu schweigen. Weder tierisch, noch pflanzlich. Es musste die Hölle sein, es gab sie also wirklich. Dabei gab es keinen Richter, keinen Petrus, gar nichts. Woran ich wohl gestorben war? Ich hatte keine Erklärung, trotzdem ich wieder bei Bewusstsein und völlig klar war. In einiger Entfernung sah ich eine kleine Pfütze spiegelnd verdampfen. Ich kroch zu ihr hinüber und war so glücklich. Über einer kreisrunden Fläche mit einem Durchmesser von knapp einem Meter verteilte sich eine vergilbte Flüssigkeit. Egal, was es war, ich hatte den Durst meines Lebens. Ich beugte mich hinunter und hob mit meinen Händen wieder und wieder eine kleine Menge zu meinem Mund und trank gierig. Es schmeckte abscheulich, irgendwie verwest, abgestanden, säuerlich-bitter. Wie ich den letzten Tropfen wegleckte, nahm ich im Augenwinkel links von mir einen Schatten wahr. Ich drehte mich langsam um und blinzelte der Dame von vorhin entgegen.
»Was bildest Du dir eigentlich ein?« Das klang gar nicht nett und das Strahlen ihres Gewands war auch dahin. Ihr Engelsgesicht war zu einer Faust geballt und das blonde Haar verlief ins grelle Rot.
Meine Kehle schmerzte. Flüsternd antwortete ich: »Wieso? Nichts, ich habe Durst.«
Sie zischte mich an: »Aha, der Herr hatte also Durst! Und was glaubt er, hat er gerade getrunken?«
Ein unheilschwangerer Gedanke durchzuckte meinen Kopf. Es wird doch nicht ihr Urin gewesen sein, den sie am Morgen in dieses Loch gelassen hatte? Aber diese Gegend! Sie sah doch so anders aus! Oder nicht? Ich konnte es nicht sagen, beim besten Willen nicht. Ich war gefühlt zehn Kilometer und mehr über diesen öden Planeten geschlichen und es mochte sein, dass ich mich im Kreis bewegt hatte, doch sicher war ich mir nicht.
»Abgestandenes Wasser vielleicht?«, antwortete ich vorsichtig.
Sie trat näher zu mir heran und betrachtete mich ausgiebig.
»Du siehst komisch aus. Wo kommst du her?«
Ich wollte mir gerade ein paar Dinge zusammenstottern, die ich selbst noch nicht so recht begriff, als sie mir ins Wort fiel. »Sag am besten gar nichts, ich weiß es ja schon. Du warst gestern noch in einer wunderbaren Welt, aus der du nach dem Genuss unerlaubter Substanzen hier wieder aufgewacht bist. Ein paar Millionen Jahre früher, aber im Grunde am selben Ort.«
Ich riss meine Augen auf und sagte: »Wie viele Jahre früher am selben Ort?!«
Sie blickte zu mir, hob die Augenbrauen nacheinander und schaute eindringlich. »Wie dem auch sei. Zeitkonvergenz hin oder her, das würdest du sowieso nicht verstehen. Aber hat denn der Herr in der Schule gut aufgepasst?«
»Naja, ging schon so.«
»Wie entstand die Welt?« So eine blöde Frage aber auch! Als wenn sich nicht schon genug Leute darüber ausgelassen hatten, Bücher gefüllt und gestritten hätten. Und da fragte diese wundersame Person nun gerade mich! Wer war sie überhaupt? Und was sie sich einbildete!
»Wenn man mal von religiösen Überlegungen absieht, hätte ich die Urknalltheorie anzubieten.«
»Gut aufgepasst, Jungchen! Und was war danach, woraus entwickelte sich das Leben?«
Ich schluckte hörbar und hatte plötzlich einen schwerwiegend bedrückenden Verdacht. Es würgte mich und gleichzeitig zog es mir den Hals zu. Ich stotterte: »Aus der Ursuppe vielleicht?«
»Aus der Ursuppe, natürlich, woraus denn sonst?? Und möge der Herr sich mal umsehen? Gibt es hier vielleicht irgendwo eine Ursuppe? Na?«
»Nein. Weit und breit keine.«
»Hat’s wenigstens geschmeckt, den Durst gestillt?« Sie setzte sich hin und stampfte mit ihren Füßen auf die Erde. Dann schrie sie voller Zorn: »Das darf doch nicht wahr sein. Jahrelang bereite ich mich vor, ernähre mich gesund, treibe Sport und verzichte auf alles, was Spaß macht und nun kommt dieser Idiot und säuft mir die Ursuppe weg!« Sie sah mich grimmig an.
»Jetzt schauen Sie mich nicht so an! Ich kann nichts dafür! Gestern lebte ich noch in meiner Welt im 21. Jahrhundert und war glücklich. Nun bin ich hier, habe Durst und weiß rein gar nichts. Eigentlich will ich nur noch heim.«
»Och der Kleine, jammerndes Weichei! Will nach Hause zu Mama! Du spinnst wohl? Du kommst wieder nach Hause, wenn du den Schaden hier repariert hast, oder was glaubst du, soll ich meinem Vater sagen, wenn ich das hier vermasselt habe?
»Was vermasselt?«
»Ach nichts, du Dummerchen, nur die Entstehung der Welt, des Lebens, vielleicht irgendwann von dir!«
Und plötzlich dämmerte es mir. Heilige Scheiße, ich hatte gerade die Grundlage meiner eigenen Existenz ausgesoffen! Die gesamte Welt lag in meinem Schlund. Ich schwitzte sie heraus und vernichtete damit ihre Grundlage!
»Kann ich das irgendwie wieder gutmachen?«
»Er findet sich wohl auch noch witzig, was? Ich habe ganze Galaxien bereist, um einen geeigneten Nistplatz für dieses Experiment des Lebens zu finden. Und nun kommst Du und willst es mal eben wieder gutmachen! Doch wenn ich dich so sehe, ist es vielleicht gut, dass es nichts wird. Dann eben woanders!«
»Aber warten Sie doch bitte. Ich meine, wenn ich es getrunken habe, muss es dann nicht wieder raus und könnten wir es dann nicht wieder verwenden?«
Sie stand auf, stellte sich direkt vor mich und zeigte mit dem Finger auf mich. »Möglich ist alles. Das Leben bahnt sich seinen Weg. Aus dieser Ursuppe wäre eine faszinierende Welt geworden, glaube mir. Fressen und gefressen werden, leben und leben lassen. Und dazu eine Spezies, die Göttliches und Tierisches in sich vereint, es aber schaffen wird.«
»Ja«, falle ich ihr ins Wort, »das wird auch so werden. Unser Leben ist ganz wundervoll.«
»Es war ganz wundervoll. Verabschiede dich davon. Es kann unmöglich wieder so werden. Du hast den Lauf der Dinge verändert. Nun mach’ das Beste draus und lebe wohl!«
Und plötzlich war sie nicht mehr da. Einfach so. Ich setzte mich auf einen Stein und war so hoffnungslos überfordert. Diese wunderbare Welt des Einsseins, der Balance von allem, hatte ich aufs Spiel gesetzt. Ich war am Boden zerstört und wusste keinen Ausweg.
Ein paar Stunden später musste ich mich entleeren. Mit allem Drum und Dran. Ich hockte mich an den Rand der Senke im Felsen und entleerte mich. Als ich fertig war, wurde ich ohnmächtig.
Ich wachte an einem Strand auf, wo ich auch gefunden wurde. Nach drei Tagen kehrte mein Gedächtnis zurück. Ihre Welt habe ich nun kennengelernt. Glauben Sie mir bitte, ich würde sie jederzeit gegen meine alte eintauschen. Leider glauben Sie mir nicht und ich muss nach dieser Erklärung wieder zurück in meine Zelle. Zu den Doktoren, die sich über mich wundern, weil ich Ihnen sage, dass es doch keine Ursuppe war, sondern diese Welt aus einem Haufen Scheiße entstanden ist. Dass mir meine Welt fehlt und ich gern wieder im Gleichgewicht wäre. Wenn ich mich aber umschaue, sehe ich, dass wir das hier nicht schaffen. Wir beuten diesen Planeten aus, wie es ein Virus mit seinem Wirt tut. Menschen verhalten sich schlimmer als Tiere und nur ganz wenige sind erleuchtet. Es ist wohl der einige Segen, den ich habe, dass ich zurückgehen kann ins Irrenhaus. Zu meinen neuen Freunden, die mich liebevoll den Suppenkasper nennen. Die aber alle wissen, dass ich keinen Unsinn erzähle.