Ordnung muss sein!

Es war einer der ersten richtig warmen Tage des Jahres. Die Natur erwachte bereits, die Bäume wurden wieder grün und es roch schon gar nicht mehr nach Frühling, sondern schon ein wenig nach Sommer. Ich hatte den ganzen Morgen über an den letzten Seiten eines Manuskripts gearbeitet, das an diesem Tag auf jeden Fall abgeschickt werden musste, wenn ich noch am Wettbewerb teilnehmen wollte. Und ich hatte mir vorgenommen, dass ich es mit dem Fahrrad zur Post fahren würde, um das tolle Wetter zu genießen. Kurz nach elf schnappte ich mir mein Fahrrad und radelte los. Durch Untermhaus hindurch, vorbei am Naumannplatz und dann bog ich mit einem herrschaftlichen Gefühl in die Orangerie ein, die so menschen- wie der Brunnen wasserleer war. Ich genoss den Fahrtwind und die Sonne auf meinem Gesicht. Alles fühlte sich stimmig an, sodass ich es als gutes Omen für das auf dem Gepäckträger befindliche Manuskript deutete. Möglicherweise würde es mir dieses Mal gelingen, die Jury zu überzeugen, meine Geschichte zu mögen.
Aber vielleicht ist es auch wichtig und notwendig, die Träumer immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Jedenfalls sah ich aus Richtung Theater zwei Polizisten auf Fahrrädern auf mich zukommen und wer glaubt schon daran, dass das Ergebnis eines kreativen Prozesses in dem Briefumschlag hinter mir mit der Präsenz staatlicher, mithin einschränkender Gewalt vereinbar ist?
Doch, zum Glück, hielten sie bei einem jungen Herrn an, mit dem sie ins Gespräch kamen und ich nahm mir vor, schnell und elegant an ihnen vorbei zu fahren, um die negative Energie auf gar keinen Fall in Richtung meines Manuskripts strömen zu lassen. Ich fuhr also froh gestimmt auf das Trio zu. Kurz bevor ich sie passieren wollte, scherte der Fußgänger unter ihnen aus und stellte sich mir in den Weg. Ich bremste, er zückte einen Ausweis und sagte: „Guten Tag, ich bin Argus Auge vom Ordnungsamt. Bleiben Sie bitte stehen.“
Ich tat wie mir geheißen. „Sind Sie aus Gera?“
„Ja“, antwortete ich wahrheitsgemäß, unsicher, ob das schon meine erste Straftat war oder nicht. Die beiden Polizisten waren an ihre Räder gelehnt in ein Gespräch vertieft und bekamen also nichts mit. Glück gehabt, dachte ich.
„Gut“, fuhr Herr Auge vom Ordnungsamt fort, „dann wissen Sie sicher, dass Sie im Bereich der Orangerie nicht Fahrrad fahren dürfen!“ In seine Stimme hatte sich inzwischen ein deutlicher Befehlston eingeschlichen und eine zart knospende, aber schon fordernde Oktave, die eher der SM-Szene zugeschrieben werden konnte.
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte ich ehrlich. „Aber es wundert mich, dass die Herren Polizisten hier mit dem Fahrrad fahren dürfen und ich nicht.“
Herr Auge blickte mich missbilligend an und fühlte sich offenkundig bestätigt, den Richtigen angehalten zu haben, denn neben dem unerlaubten Befahren eines zu dieser Zeit völlig menschenleeren Weges schien ich auch noch die Staatsgewalt nicht ausreichend ernst zu nehmen. Ein dicker Brocken also.
„Diese Herren“, hob er die Stimme nun im Stile eines Staatsanwalts, „fahren hier auch in Erfüllung ihrer dienstlichen Pflichten!“ Und beide Dienstpflichterfüller nickten zur Bestätigung. Solche Leute lauschen also immer mit.
„Sehen Sie“, wandte ich mich ein wenig zu freundlich an Herrn Auge, „das ist bei mir genauso. Ich fahre hier nämlich auch in der Erfüllung meiner dienstlichen Pflichten mit dem Rad. Diesen Brief hier“, ich deutete hinter mich, „fahre ich nämlich zur Post, um ihn mit einer dienstlich gekauften Marke zu versehen und in meinem streng dienstlichen Interesse abzuschicken.“
Auges Augen waren nun alles andere als freundlich. Bürgerfreundlich schon gar nicht mehr. Was würde er nun tun? Mir eine Uniform geben? Als Ausdruck meiner Dienstlichkeit? Den Brief selbst zur Post bringen, damit ich nicht mehr durch die Orangerie fahren müsste? Oder gar die Polizisten zum Schieben ihrer Drahtesel ermahnen, damit sie künftig mit einem besseren Beispiel vorangehen? Weit gefehlt! Denn in Auges Hirn arbeiteten die Synapsen anders. „Nun gut. Sie steigen jetzt bitte ab und schieben Ihr Fahrrad bis zum Ausgang. Wenn Sie das so machen, belasse ich es bei einer mündlichen Ermahnung.“
Wie darf man sich bei einem öffentlich-rechtlich Bediensteten für soviel Großmut bedanken? Hätte ich ihm um den Hals fallen sollen? Ein Päckchen Kaffee ins Ordnungsamt schicken? Wäre das dann eine dienstliche Fahrt zur Post? Musste ich als Kind in solchen Fällen nicht immer den ganzen Weg zurückgehen? Doch der Renitent in mir gewann. „Und wenn ich es wieder täte, rein dienstlich, versteht sich?“
„Dann müssten Sie ein Ordnungsgeld in Höhe von 15 Euro entrichten.“
Mit Herrn Auge und der Stadt war also nicht zu spaßen. Ich stieg ab, schob mein Rad bis zum Theater und fuhr zur Post.
Als ich auf meinem Rückweg in die Orangerie einfuhr, sah ich am anderen Ende, wie mein Freund Argus einen anderen Rüpel vom Fahrrad wies. Soviel dienstliche Fahrten konnte es unmöglich geben. Wahrscheinlich einer ohne Brief. Rücksichtloser Freizeitradler. Recht so, Argus, immer drauf. Ich konnte also beruhigt weiterfahren.

Interview von Ada mit Mark und Ophelia

Im Gespräch mit: Ophelia Hansen & Mark Jischinski

22. Oktober 2010 von Ada Mitsou

Mark Jischinskis Deutschlehrerin bat ihn vor 18 Jahren, niemals Schriftsteller zu werden. Gut, dass er nicht auf sie gehört hat, denn sonst wäre „Spatzenmuse“ wahrscheinlich nie entstanden. Den E-Mail-Roman schrieb er in Zusammenarbeit mit Ophelia Hansen, die bereits im zarten Alter von elf Jahren mit dem Schreiben begann. Leider landete ihr erstes Werk unvollendet in der Schublade, doch die Liebe zum Schreiben blieb.

 

Vor kurzem habe ich den Roman der beiden hier vorgestellt und zum Anlass genommen, ihnen ein paar Fragen zu stellen. Ich muss gestehen, dass ich mich auf dieses Interview besonders gefreut habe. Vielleicht weil mich „Spatzenmuse“ für ein paar Stunden von meinen gewohnten Lesepfaden weglocken konnte. Vielleicht aber auch, weil ich es sehr spannend finde, wenn zwei Autoren an einem Buch schreiben und unterschiedliche Fragen gemeinsam und doch unabhängig voneinander beantworten. Was dabei herauskam, könnt ihr hier nachlesen.

~

Ada: Kanntet ihr euch schon vor eurem Buchprojekt?

Ophelia: Wir kannten uns fast gar nicht. Unsere geschriebenen Worte haben zueinander gefunden.

Mark: Bis zu unserem gemeinsamen Schreiben kannten wir uns nicht. Wir haben uns einmal getroffen, als Ophelia ein Buch von mir gekauft hat. Dadurch kamen wir ins Gespräch. Wahrscheinlich kennen sich Max und Carlotta besser als wir uns.

Ada: Wie kamt ihr zu der Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben?

Ophelia: Ich hatte Marks „Wunder sind weiblich“ gelesen und war davon so berührt, dass ich unbedingt mit ihm zusammen arbeiten wollte und zu
meiner großen Freude sagte er sofort „Ja“.

Mark: Wir haben ein wenig herum gesponnen und dabei kam uns die Idee, dass wir ein Schreibprojekt angehen könnten. In welchem Ausmaß das sein würde, stand zu Beginn überhaupt nicht fest. Dass es am Ende sogar ein Buch geworden ist, ist einfach nur toll.

Ada: Die Zusammenarbeit erfordert sicherlich ein gutes Organisationstalent. Wie sah der Arbeitsprozess bei euch aus: Habt ihr euch gegenseitig E-Mails geschickt, wodurch sich der Handlungsverlauf spontan entwickelte? Oder war es wichtig, dass ihr euch zusammengesetzt habt, um Ideen zu sammeln?

Ophelia: Das Buch entstand völlig spontan. Lediglich Carlottas erste Mail hatten wir kurz umrissen, der Rest war eine dynamische Entwicklung. Wir haben es sogar bewusst vermieden über die Charaktere oder das, was wir als nächstes mit ihnen vorhaben, zu sprechen.

Mark: Die Zeiten im Buch entsprechen denen der Realität. Wir haben uns in Echtzeit geschrieben und hatten vom jeweils anderen keine Information über die Figur. In dem Maße wie also Carlotta und Max einander kennenlernten, taten wir dies auch. Deshalb war es für Carlotta und Ophelia sicher eine große Überraschung, als Max endlich etwas mehr von sich preisgab. Und Carlotta konnte manchmal ganz schön nervig sein.

Ada: Einige Leser schreiben selbst und möchten gerne erfahren,wie Schriftsteller es geschafft haben, ihr Buch an den Verlag zu bringen. Wie war das bei euch?

Ophelia: Mark hat sehr gute Beziehungen zum Verlag, das war mein großes Glück.

Mark: Auch mein letztes Buch „Eine endliche Geschichte vom unendlichen Leben“ erschien im adakia Verlag. Deshalb hatten wir an der Stelle keine Probleme. Es ist ein kleiner Verlag, in dem alle mit Herz, Energie und Leidenschaft arbeiten. Vor allem Susan im Marketing wird nicht müde, die Welt von unserem Buch in Kenntnis zu setzen, ganz gleich, wie viele Rückschläge sie einstecken muss. Für ihre Arbeit sind wir ihr sehr dankbar.

Ada: Mark, von dir weiß ich, dass du bereits eigene Bücher veröffentlicht hast. Ist es einfacher alleine zu schreiben als mit jemand anderem zusammen?

Mark: Einfacher würde ich nicht sagen. Es ist komplett anders, weil die Dynamik nicht vorhersehbar ist und die Spannung immer wieder neu entsteht, schon wenn eine Mail im Postfach liegt. Die besondere Form des E-Mail-Romans ermöglicht es, sich den Ball immer wieder hin und her zu spielen, sodass das Erzähltempo fast von sich aus entsteht. Darüber hinaus ist es im Fall von Spatzenmuse ja tatsächlich so gewesen. Die Geschichte ist nicht vorher am Reißbrett entstanden. Deshalb sind die Reaktionen immer absolut echt. Wenn ich mir selbst etwas ausdenke, muss ich ja immer erst prüfen, ob das wirklich so sein kann und ob der gedachte Gegenüber wirklich so handeln würde. Bei einer Mail kann mich der andere Autor immer wieder überraschen.


Foto: Yvonne Jedamzik, Gera
 

Ada: Rein optisch wirkt ihr sehr unterschiedlich, was sehr gut zu den Buchcharakteren Carlotta und Max passt. Wie viel Persönlichkeit steckt von euch in den Romanfiguren?

Ophelia: Sicherlich so Einiges. Ich habe Carlotta beispielsweise meine Schuhsammlung geliehen 🙂
Aber es ist ja gerade das Spannende eine Person zu erfinden und zu sehen, wie sie sich entwickelt. Manchmal ist man mit ihr nicht einmal einer Meinung.

Mark: Ich glaube, dass jede Romanfigur geprägt ist von den Erfahrungen, Werten und Glaubenssätzen ihres Schöpfers. Ich bin also immer ein Teil von Max und er ein Teil von mir. Und trotzdem sind wir nicht gleich. Genau dieser Punkt ist aber auch ein wesentlicher Punkt bei der Faszination des Schreibens.

Ada: Besonders Carlottas quirliges Auftreten und das Zusammenspiel zwischen ihr und dem ruhigen Max hat die Leser begeistert. Doch wie geht ihr mit negativer Kritik um?

Ophelia: Zum einen ist es natürlich unser Baby und man möchte es vor jedem kritischen Wort schützen. Aber zum anderen ist es wohl unmöglich, etwas zu schreiben, was wirklich jedem gefällt. Ich freue mich über jedes positive Feedback, wovon es schon eine Menge gab, und letztlich ist es das, was zählt.

Mark: Ich würde die Kritik gern teilen. Eine Kritik nach dem subjektiven Empfinden eines Lesers kann ich ganz wertfrei hinnehmen. Jeder Leser hat Vorlieben und wir alle ticken nicht jeden Tag gleich. Der Roman kann deshalb unmöglich jedem gefallen. In der Folge ist mir sogar egal, wie niveauvoll die Kritik dargelegt wird.
Für ein Feedback, das handwerkliche Schwächen offenlegt, oder Dinge benennt, die ich beim nächsten Mal besser machen kann, bin ich dankbar.
Nicht zuletzt sollte wahrscheinlich jeder Autor eine gewisse Dickfelligkeit besitzen. Mit Kritik muss immer gerechnet werden. Im normalen Leben ist es ja auch nicht anders. Kritisiert wird immer gern. Das Lob geht den Menschen schwerer über die Lippen.

Ada: Das Ende von „Spatzenmuse“ lässt vermuten, dass es eine Fortsetzung des Romans geben wird. Im Internet habe ich aufgeschnappt, dass ihr bereits daran arbeitet. Ist an dem Gerücht etwas dran? Falls ja, wann wird das neue Buch voraussichtlich erscheinen?

Ophelia: Es stimmt, wir wollen die beiden noch nicht gehen lassen, dafür sind sie uns auch zu sehr ans Herz gewachsen. Aber über einen genauen Zeitpunkt kann man im Moment noch nicht sprechen.

Mark: Eine Fortsetzung ist in jedem Fall reizvoll. Doch ich finde es im Moment verfrüht, bereits über Termine zu reden. Lassen wir uns lieber überraschen, wohin es Carlotta und Max verschlägt, ob und wie sie zueinander finden oder ob und wie sie es nicht tun.

Vielen Dank euch beiden!

Gera 2030

Gera 2030

Festrede des Geraer Oberbürgermeisters aus Anlass der Einweihung des neuen Zentrums für Altenpflege in den ehemaligen Gera-Arcaden:

Sehr geehrte Damen und Herren, werte Ehrengäste, liebe Senioren und Seniorinnen,

wenn wir heute nun das zweihundertste Altersheim in unserer blühenden Metropole an dieser historischen Stätte des schnöden Mammons einweihen, so erfüllt es mich mit besonderer Freude und, ja bitte gestatten sie mir diese kleine Sentimentalität, innerer Genugtuung und Stolz. Ein besonderer Willkommensgruß gilt natürlich Herrn Bundespräsidenten Erdogan, dem ich meinen herzlichen Dank für sein Erscheinen aussprechen möchte. Seien sie mir alle herzlich gegrüßt in diesem neuen Heim der Fürsorge und Pietät, in dem das Leben pulsiert und die Bewohner würdevoll Abschied nehmen können von einer der schönsten Städte unseres Landes.

Kann sich denn von den Anwesenden überhaupt noch jemand in unser Tal der Tränen erinnern? Wohl kaum! Denn nach den trüben Jahren um die Jahrtausendwende hat unsere Stadt nunmehr internationales Ansehen und die weisen Entscheidungen unserer Stadtväter von damals und heute zahlen sich schon seit einiger Zeit aus.

Was haben uns die Spötter damals nicht alles an den Kopf geworfen, als wir die Wirtschaft in ihren Augen zugrunde richteten, was haben sie uns gescholten, weil wir keine Industrie ansiedelten! Und waren wir, nur um das Wohl unserer Gemeinde besorgten Stadtväter, nicht um so mehr Zielscheibe verleumderischer Hetzkampagnen genau der Unternehmer, die sich nunmehr anhand unseres, von kluger Hand und klarem Geist vorausgeplanten Projektes eine goldene Nase verdienen?

Ich darf Ihnen noch einmal die Zahlen in Erinnerung rufen, wir alle wissen ja, dass die Erinnerung ein schwacher, vergänglicher Freund unserer Jugend ist. Um die Jahrtausendwende hatte Gera eine Bevölkerung von knapp über einhunderttausend Einwohnern, die auch noch durchsetzt war mit einem krankhaft hohen Anteil junger Leute, so dass wir damals noch einen Altersdurchschnitt von Mitte vierzig hatten. Wir aber, die von Ihnen legitimierten Volksvertreter und würdiges Sprachrohr Ihrer Interessen, schufen durch das Vernichten der herkömmlichen Industrie und dem Verhindern weiterer, unschöner und störender Unternehmensansiedlungen die idealen Voraussetzungen, um die blühende Stadt zu schaffen, die Gera heute, im Jahr 2030, ist.

Trotzdem wir international bekannt sind, nicht minder bewundert werden und die Zahlen global in aller Munde sind, hier noch einmal die Eckdaten: Wir haben letzte Woche den zweihundertfünfzigtausendsten Einwohner Geras begrüßen können und nach dem viel zu frühen Dahinscheiden zweier Frischlinge in der vorletzten Woche lebt nun, abgesehen vom Servicepersonal, kein Mensch mehr unter 60 Jahren in unserer schönen Stadt!

 

Es sei der nicht enden wollenden Liste von Zuwanderungswilligen an dieser Stelle gesagt, dass die emsigen Mitarbeiter des Servicezentrums H35-70 jeden Antrag genau bearbeiten und mit der bekannten Gründlichkeit wohlwollend bewerten. Beachten sie aber bitte, dass der Zuwanderungspass, also die sogenannte „Gera-sehen-und-sterben-Card“, aufgrund der hohen Nachfrage nur noch erteilt wird, wenn der Antragsteller das 65. Lebensjahr vollendet hat und eine Behinderung von maximal dreißig Prozent nachweist! Wer wird denn schon in einem Grab liegen wollen, von dem man nicht weiß, ob die Nachbarn koscher sind!

Um aber nun auch den Kritikern von damals noch einmal in Erinnerung zu rufen, wie falsch sie mit ihrer wenig zukunftsweisenden Meinung und ihren perfiden Prognosen lagen, möchte ich unbedingt noch zwei der vielen Errungenschaften in unserer Stadt ansprechen. Zum einen geht es um das Kreativheim „Otto Dix“ im ehemaligen Kunsthaus und zum anderen um unseren Gewerbepark an der Elster. Dass das Kunsthaus ein Flop war, konnte unser weiser Stadtvater von damals nicht ahnen und wir alle wissen, dass sich politische Gegner mit diesem Thema lediglich profilieren wollen, weil sie kein eigenes Konzept haben! Unser Ehrenoberbürgermeister hat diese Stadt bahnbrechend vorangebracht und deshalb soll er auch hier wertschätzend erwähnt sein. Jedenfalls haben wir im ehemaligen Kunsthaus ein Kreativaltenheim geschaffen, das es so in der Welt nicht noch einmal gibt. Künstler aller Sparten geben ihr Wissen an Interessierte weiter und das gesamte Haus ist mit den Ergebnissen der Arbeiten der Bewohner geschmückt. Der Kreativität sind auch im Alter keine Grenzen gesetzt!

Aber auch die Wirtschaft konnten wir wiederbeleben. Leuchtendes Beispiel hierfür ist der Elster-Park. In diesem weltweit einmaligen und mehrfach ausgezeichneten Innovations- und Gründerzentrum haben sich, den Spöttern und Milchmädchenrechnern zum Trotz, namhafte Firmen angesiedelt, von denen ich nur einige beispielhaft nennen möchte.

Der Gartenmarkt “Erdreich” versorgt den Zentralfriedhof täglich mit neuer, frischer Erde und in der, im Nostalgiedesign der Jahrtausendwende gehaltenen Verkaufshalle, sind schmucke Gebinde und Ziersträucher für so manches Grab eines Freundes oder einer vermissten Konkubine zu erhalten. Geradezu Weltruhm hat sich unser All-Inclusive-Krematorium mit zehn Brennöfen erarbeitet, in dem in drei harten Schichten einiges, manchmal auch der eine oder andere erschöpfte Mitarbeiter durch den Schornstein geht. Die Steinmetz Rusuhast GmbH (Ruhe sanft unter hartem Stein) hat mit ihrer Steinmetzkunst ebenfalls internationales Renommee, wobei natürlich weiterhin der lokale Markt im Vordergrund steht. Vom ausgezeichneten Pietätswesen in unserer Stadt brauche ich wohl kaum zu reden, die dort beschäftigten Männer und Frauen verstehen ihr Handwerk ebenso wie die Angestellten der Orthopädischen Klinik, des zahntechnischen Zentrums sowie des Instituts für altersgerechte Ernährung “Hauptsache weich!”. Unser innovatives Gründerzentrum hat längst diese obsoleten Luftschlösser wie Gewerbegebiet Bieblach-Ost oder Korbußen geschlagen, zumal diese ehemals wirtschaftlich geschändeten Gebiete längst großflächigen Park- und Friedhofsanlagen Platz gemacht haben, die zum Flanieren einladen, oder zum Besuchen alter Freunde, bei denen man sich mal aussprechen kann. Ganz zu schweigen von all den Kneipen und Bars, den Szeneläden mit dem letzen Schrei der Thrombosestrümpfe, unserer Gerschen Fast-Food-Kette „Mc Brei“, den unzähligen Begegnungsstätten, den gut besuchten Bordellen und all den kulturellen Veranstaltungen wie Skatmeisterschaft, Wettstricken oder das Schützenfest „Grauer Star“. Natürlich werden sie in all den genannten Örtlichkeiten keine dieser unfreundlichen, jugendlichen Kaugummifressen entdecken, nie und nimmer wird sie ein schludriger Möchtegernrentner bedienen, sie alle können sich darauf verlassen, dass unsere Bedienungen im Frontoffice sämtlich mindestens sechzig Jahre alt sind. Lediglich im Hintergrund arbeiten junge Menschen, die sich stetig weiterentwickeln und in angemessener Abschottung reifen. An dieser Stelle kann ich es mir, und sie werden es mir verzeihen, geliebte Wähler, nicht verkneifen, dringend zu erwähnen, dass unsere autarke Wirtschaftspolitik fast zur Vollbeschäftigung geführt hat! Lediglich die Kranken und Sterbenden gehen nicht arbeiten und ich natürlich auch nicht, doch das nur am Rande.

Nächste Woche werden wir die Stadtbahnlinie 9 eröffnen und gleichzeitig wird der Rollweg 1 vom Zschochern bis zum neuen Zentrum für Altenpflege Arcaden in Betrieb genommen. Damit wird es Ihnen möglich sein, ganz ohne Eigenbewegung und ohne fremde Hilfe die gesamte Strecke in der Innenstadt hin und zurück fahren zu können! Und selbstverständlich auch bei Regen, denn der Rollweg ist komplett überdacht. Sie können nach Belieben ein- und aussteigen und werden dabei an jeder Stelle von unserem freundlichen Rollwegpersonal unterstützt.

Lassen sie uns nun fröhlich auf das Erreichte anstoßen und in gemütlicher Runde feiern, so lange wir noch können. Und sollte der eine oder andere während der Feierlichkeit von uns gehen, so kann ich ihm nur frohgemut unseren alten Wahlspruch auf den Weg geben:

Man stirbt nur einmal!

 

 

 

Ada Mitsou: Rezension zu „Spatzenmuse“

Ada Mitsou betreibt unter http://adamitsou.wordpress.com/ einen wunderbaren Literaturblog, in dem sie unzählige Bücher vorstellt. Freundlicherweise hat sie unseren Roman „Spatzenmuse“ rezensiert, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Die Rezension ist unten zu lesen und allen Literaturbegeisterten empfehle ich einen Besuch ihres Blogs.

„Ich möchte ehrlich sein: „Spatzenmuse“ passt rein optisch und bezüglich des Klappentextes eigentlich nicht in mein Beuteschema. Das Buch sieht für mich nach einem typischen Frauenroman aus und liest sich rückseitig auch so.

Nach der Leseprobe habe ich es jedoch  trotzdem zu Hand genommen und letztlich kann ich sagen, dass man dem ersten Eindruck nicht immer trauen sollte. Ich wurde angenehm überrascht!

Carlotta Spatz schreibt nach einem missglückten One Night Stand eine frustrierte und äußerst offenherzige E-Mail an ihren Liebhaber. Diese landet allerdings im falschen Posteingang. Max Tettenborn ist offensichtlich nicht der Mann, mit dem sie das Bett geteilt hat, was er Carlotta in einer leicht amüsierten, aber doch deutlichen E-Mail vermittelt. Die quirlige Schuhliebhaberin möchte am liebsten vor Scham im Erdboden versinken und trotzdem treibt sie die Neugier, wer dieser Mann, der sie zugleich zum Lachen, aber auch auf die Palme bringt, ist.

Obwohl sich Max und Carlotta nicht kennen und scheinbar grundverschieden sind, entspinnt sich zwischen den beiden ein ungezwungener E-Mail-Kontakt. Während Carlotta frei Schnauze über ihr Leben und ihre Liebschaften plaudert, hält sich der stille Max bedeckt, bis sich nach und nach herausstellt, dass es vielleicht doch mehr zwischen den beiden gibt, als eine Internetverbindung. Eine turbulente und innige Freundschaft entsteht, die eines Tages in ungeahntem Ausmaß auf die Probe gestellt wird…

~

Während man Spatzenmuse liest, hat man das Gefühl, man schaue mitten in die Köpfe zweier Menschen, die im stillen Kämmerlein vor ihren Laptops sitzen und sich gegenseitig Geheimnisse verraten.
Während Max zunächst sehr zurückhaltend ist und hauptsächlich auf Carlottas Wortstürme reagiert, legt diese ihre Gedanken einem Seelenstriptease gleich offen. Sie plaudert frei heraus über missglückte Bettgeschichten, ihren Schuhtick und die Affinität zu muskulösen Männern.
Max hingegen ist ein Mensch, der zwar äußerst charmant schreiben kann, von sich selbst jedoch eher ungern redet. Er liebt es, ab und zu auch mal zu schweigen, arbeitet in einer Werkstatt, in der Kinderspielzeug hergestellt wird und lässt nur alle paar Tage was von sich hören.
Ab einem gewissen Zeitpunkt kann er sich Carlottas Unbefangenheit jedoch nicht mehr entziehen. Die Abstände zwischen den Nachrichten werden kürzer, die Mails länger und die Ungeduld größer. Wie sich herausstellt, haben die beiden Schreiber mehr Gemeinsamkeiten, als sie zunächst dachten: Sie lieben Bücher, haben ähnliche Wertvorstellungen und teilen denselben Humor.

Für den Leser ist das Geschriebene aufgrund der Schlagfertigkeit und kleinen Wortgefechte äußerst unterhaltsam. Zudem liest sich das Buch sehr leicht, weswegen man es kaum zur Seite legen möchte und gespannt verfolgt, wie es zwischen Carlotta und Max weitergeht. Als besonders angenehm empfand ich, dass es auf den ersten 100 Seiten ausnahmsweise mal nicht um Online-Liebe geht. Dass unterscheidet „Spatzenmuse“ von eben jenen Frauenromanen, die ich anfangs mit dem Buch verbunden habe.

Und doch erwartet den Leser im letzten Drittel eine äußerst überraschende Wendung. Die Kunst des Irreführens beherrschen Hansen und Jischinski in meinen Augen perfekt. Ich habe zu keiner Zeit auch nur geahnt, was da noch kommen könnte und doch ziehe ich an dieser Stelle einen Stern ab.
Was ich eben noch gelobt habe, dreht sich hier in eine Art Hollywooddrama. Es wird dramatisch, die Gefühlswelt wird ordentlich aufgemischt und genau wie im Film lösen sich manche Probleme einfach zu glatt. Dadurch verliert das Geschriebene meiner Meinung nach ein wenig an der zuvor geschätzten Originalität und reiht sich in die Riege der entsprechenden Genrevertreter ein.
Fans von spannend-romantischen Geschichten werden hier voll auf ihre Kosten kommen, mich persönlich hat diese Entwicklung ein wenig enttäuscht.

Nichtsdestotrotz – und das möchte ich an dieser Stelle betonen – lag ich mit meiner Einschätzung zu Beginn falsch. „Spatzenmuse“ ist kein platter E-Mail-Roman. Das Geschriebene liest sich äußerst charmant, die Dialoge sind amüsant und schlagfertig und hier und da geht es inhaltlich in die Tiefe.
Ich habe das Buch im Ganzen sehr gerne gelesen und empfehle es all jenen, die humor- und temperamentvolle Unterhaltung zu schätzen wissen.“

© Ada Mitsou

176 Seiten / 10,90 € ~ adakia Verlag (20. September 2010) ~ ISBN: 3941935011

Grass’sche Gegenrede und das merkwürdige Verhalten eines zu kleinen Königs

Ach, der Günter! Hat auf seine alten Tage, gar nicht lange nach der leise wiederkehrenden Erinnerung an eine kleine SS-Episode seinerseits, gemutmaßt, die Autoren der Gegenwart seien unpolitisch und ein verweichlichtes Volk ohne Mumm. Ohne dass es dieses Einwands bedurft hätte, habe ich heute den Einwohnerantrag des Goethegymnasiums Rutheneum in Gera unterschrieben. Nicht, weil ich gegen das Kunsthaus bin. Sondern weil ich für den Schulcampus bin. Und um hier mal eine politische Weisheit zu posten, die auch auf einen Kalender passen würde:
Wenn man sich für eine Sache entscheidet, bleibt es nicht aus, dass man es gleichzeitig gegen eine andere tut. Wichtig ist aber vor allem die Entscheidung.
Und als kleines Bonbon für die kleinen Mächte in unserer kleinen Stadt kommt hier noch die Geschichte vom kleinen König:

Es war einmal ein kleiner König in einem kleinen Königreich. Dieser König hatte eine richtig tolle Idee für sein Reich. Weil es niemand besuchen wollte und auch keiner so recht wusste, warum man hinfahren sollte und was es in diesem Land zu sehen gibt, dachte sich der König eine Attraktion aus. In seinem kleinen Land lebte früher einmal ein Maler. Er war nicht unbedingt allererste europäische Liga, so wie van Gogh oder Rembrandt zum Beispiel, aber erste Bundesliga war er allemal. Und weil dieser Maler die einzige Person war, die jemals aus diesem Land richtig bekannt geworden ist, dachte der König, dass es doch nicht schlecht wäre, wenn das Land so hieße wie dieser Maler. Wenn dann erst alle Menschen in der Welt wüssten, dass eben dieser herausragende Maler aus dem tollen Land des Königs kam, dann würden ganz viele in sein Land kommen. Weil sie so neugierig sind. Weil sie sehen wollen, wie der Maler gelebt hat, wo er zur Schule gegangen ist und welche Bedingungen notwendig sind, damit man so ein toller Maler wie er wird. Vielleicht würden sie dann auf seinen historischen Spuren durch das Land des Königs pilgern. Denn so schön pilgert man nämlich nur in dem Land des kleinen Königs. Das war eine wirklich tolle Idee, dachte der König so für sich. Also erließ er ein Dekret und von nun an hieß das Land genauso wie der Maler. Nicht alle fanden den Einfall des Königs so gut wie selbiger, aber wozu war er denn König geworden, wenn er nicht wenigstens einmal der Bestimmer sein durfte!? Der Zufall spielte dem König danach prächtig in die Hände. Denn in dem kleinen Königreich gab es ein großes, sehr komisches Gebäude, das von außen wie ein Gefängnis aussah. Man mag es kaum glauben, aber es war früher einmal eine Bank. Zwar war es eine Zeit, in der die meisten Banker tatsächlich ins Gefängnis gehörten, aber das ist eine ganz andere Geschichte, für die unser kleiner König nichts kann.

Dieses Haus also stand schon lange leer, weil es die Bank, die es zuvor aus dem Zehnten der Menschen finanziert hatte, nicht mehr brauchte. Also dachte der König, dass es genau das richtige Haus sei, um dort dem berühmten Maler zu huldigen. Es sollte die Pilgerstätte sein und ein Schrein zu Ehren des Malers konnte dort errichtet werden, denn Platz war ja genügend da. Aus aller Welt würden Sammler und Interessierte kommen und sich das Haus und die Bilder des Malers anschauen. Millionen und Abermillionen von Menschen konnte der kleine König vor seinen inneren Augen sehen, wenn er sie einmal schloss. Was allerdings ganz selten vorkam, denn die meiste Zeit hielt er die Augen für sein Land und die Sorgen und Nöte der Menschen offen. Die vielen Besucher würden natürlich nicht nur kommen, um sich das Haus und die Bilder des Malers anzuschauen! Nein, sie würden sich auch das tolle Land mit den noch tolleren Menschen und dem tollsten kleinen König der Welt ansehen! Das wird ein Spaß, dachte der König. Und vielleicht dachte er auch daran, dass man ihm dereinst ein Denkmal vor das Haus des Malers setzen wird. Ein großes sogar.
Der König sammelte ein paar Getreue um sich, die sich an die Umsetzung seiner Vision machten. Es gab die schon erwähnten Meckerer und Besserwisser. Aber die gibt es ja immer. Nicht nur im Märchen. Diese ewigen Neider, die den Blick für das große Ganze nicht haben, die in ihrer Engstirnigkeit keinen Platz für Visionen finden. Aber diese Leute waren dem König egal. Und außerdem war er ja der Bestimmer. Genauso bestimmte er, dass es auch keine komischen Menschen geben durfte, die das Kunsthaus bis zur feierlichen Eröffnung mit ihrem eigenen Gekrakel oder gar zur Belustigung des Pöbels nutzen wollten. In eine Mercedes-Garage stellt man nun mal keinen Dacia! Aber das würden seine Untergebenen auch noch lernen. Basta! Der kleine König war vor allem geduldig. Und er wusste, dass die klügsten Ideen immer auf die dümmste Umgebung treffen. Galileo ging es ja auch nicht besser.
Doch, wie das eben im Märchen ist. Die Helden machen auch Fehler und dafür lieben wir sie umso mehr. Manchmal begeben sie sich aber auch unnötig in Gefahr und wir stehen machtlos vor der Szenerie. So, wie wir Schneewittchen zurufen wollen: „Iss diesen Apfel nicht, er ist vergiftet!“, so wollen wir auch dem kleinen König immer helfen, damit er immer die richtigen Entscheidungen trifft.
Doch eines Tages, keine böse Schwiegermutter weit und breit, und ausgerechnet bei einem wichtigen Ball, entfuhren ihm die Worte, die einem König eben nicht entfahren dürfen. Einem König darf nämlich im besten Falle gar nichts entfahren. Er sagte auf dem Ball zu seinen eigenen Ehren so laut, dass es alle geladenen Gäste hören konnten: „Kultur ist zunehmend ein wichtiger Standortfaktor für die wirtschaftliche Entwicklung eines Landes!“ Das meinte er natürlich in Bezug auf seine tolle Idee mit dem bekannten Maler. Er glaubte ja daran, dass sein namensgleiches Land bald einen großen Aufschwung erfahren würde.
An diesem Abend waren die Gäste natürlich entweder Sympathisanten, oder aber betäubt. Auch ein König schaut, dass nicht zufällig die böse dreizehnte Fee auf der Matte steht. Seine Gäste badeten sich in Freude und Selbstherrlichkeit.
Doch wir wissen es natürlich besser. Schon bald werden sie sich die Augen reiben. Ein Aufschrei wird durch das kleine Land des kleinen Königs gehen. Moment! Das geht doch gar nicht! Das ist doch alles nur ein Märchen! Das hat nichts mit unserer Wirklichkeit zu tun! Kunst und Kultur waren schon immer die Folge von Wohlstand. Gerade Kultur braucht zunächst wirtschaftliche Entwicklung, Wohlstand und Bildung als Grundlage. Aber Kultur schafft keinen Wohlstand. Was, wenn schon bald auch die anderen braven Bürger des kleinen Reiches mit dem Namen des Malers das erkennen werden? Was wird dann aus dem kleinen König und seiner großen Idee? Galileo können wir nicht mehr fragen.

Schreiben – Kaufen – Lesen

Am Ende des Weges erscheint er beim Rückblick gar nicht mehr so lang. Die Steine sind nicht mehr da und ein wenig sprießt sogar schon das Unkraut auf den Pfaden, auf denen ich noch vor ein paar Wochen ging. Und am Ende des Weges liegt ein Buch vor mir. Ich habe es mit Ophelia Hansen geschrieben und es war eine bewegende und wertvolle Zusammenarbeit mit ihr. Unser Buch „Spatzenmuse“ ist nun seit drei Wochen im Handel erhältlich, wir haben eine Lesung veranstaltet und auch schon einige Bücher verkauft. Die Rückmeldungen sind toll und sie erfreuen mich sehr. Und doch bleiben ein paar negative Eindrücke haften, die mit dem Buch eigentlich gar nichts zu tun haben.
Ich bin sehr nah dran am Verlag, an der Pressagentur und vor allem der Marketingchefin Susan. Sie alle rufen überall an, nerven Redakteure mit ihren Mails und verteilen Bücher für Verlosungen durch Magazine und Zeitschriften. Es ist toll zu sehen, wie so ein kleines Team mit soviel Energie und Herz bei der Sache ist und für ein Produkt eintritt, von dem es überzeugt ist.
Täglich müssen sie und ich aber durchatmen. Klöße runterschlucken, die viel zu groß für unsere Hälse sind. Von unseren Mägen ganz zu schweigen. Der Buchhandel ist eine sehr interessante wirtschaftliche Erscheinung. Gleiche Preise, gleiche Produkte und überall die gleichen Psalme. Wir haben Testkäufer bundesweit in Buchhandlungen geschickt, um nach „Spatzenmuse“ zu fragen. Dieser Titel ist auch bundesweit über das „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ zu ordern. Für moderne Menschen natürlich auch ganz einfach über amazon.

Die Psalme der Händler klingen so:

„Spatzenmuse? Nö. Das haben wir nicht. Ist auch nicht lieferbar.“ (Köln, Halle, Erfurt)

„Ja, das kann ich Ihnen bestellen. Dauert aber sechs bis acht Wochen bei so einem kleinen Verlag.“ (Nürnberg, Stuttgart, Berlin, Hamburg, Halle) Anmerkung: Die Bestellung in Halle wurde am 27. September vom Buchhändler aufgenommen. Sie ging am 07. Oktober im Verlag ein und wurde noch am selben Tag an die Buchhandlung geschickt. So ein kleiner Verlag hat nämlich sogar Briefmarken.

„Das haben wir nicht da.“
„Können Sie es mir bestellen?“
„Das dauert aber immer so lang und ist umständlich.“
„Soll ich es dann über das Internet bestellen?“
„Das geht wahrscheinlich schneller.“ (Gera)

Was lerne ich als Autor daraus? Dass es eigentlich albern ist, etwas zu schreiben, was zwar gedruckt und von den Lesern für gut befunden, aber nicht vertrieben wird? Dass es besser wäre, aufzuhören? Soll ich in das Lamentieren der Unverstandenen einstimmen? Den Buchhandel für alles verantwortlich machen? Einsehen, dass das alles nur ein Zeichen für schlussendlich mangelnde Qualität ist?

Ich lerne, dass es in dieser wunderbaren Welt unglaublicherweise in jedem Bereich unseres organisierten Lebens Menschen gibt, die so sehr in Systeme eingebunden sind und Dinge jeden Tag so machen wie am Tag zuvor. Und dass ich das große Glück habe, mich jeden Tag dafür entscheiden zu können, genau das nicht tun zu müssen.

Töchtersorgen – für Sophie

So schnell geht das also. Ich stehe vor der Aula der Penne und warte auf meine Tochter. Sechste Klasse. Nicht mehr so richtig klein, aber auch noch nicht wirklich groß. Irgendwo dazwischen. An mir vorbei laufen Schüler, die zwischen dreizehn und sechzehn Jahren alt sein müssten. Die Mädels sehen im Schnitt drei Jahre älter aus, die Jungs haben zum Teil noch ihre Eierschalen vom Schlüpfen zwischen den Haaren.

Ich werde wie etwas aus dem Tertiär angeschaut. Ein Relikt aus einer unbekannten Zeit. Mein Gott, denke ich, es war doch erst Gestern, da lief ich genauso herum. Komische Frisur, komische Klamotten und ein Körper, der erst noch einer werden musste. Und nun stehe ich da und werde nicht beachtet, maximal kritisch beäugt. Ein alter Mann eben. Einer von diesen Eltern. Ein Spießer, Regularienbefolger, Eingrenzer und Eingegrenzter, ein Angepasster. Wenn ich mich so zurück erinnere, dann passt aber alles wieder zusammen. Als ich in der sechsten Klasse war, waren meine Eltern auch Mitte dreißig und ich bin wohl nur ehrlich, wenn ich zugebe, dass sie für mich alte Menschen waren. Noch nicht so alt wie Oma und Opa, aber schon über den Berg allemal.
An mir vorbei hetzen zwei Lehrer. Auch die sehen aus wie zu meiner Zeit. Zu kurze Hosen, streitbare Hemden und Schuhe, wahlweise aus den Achtzigern oder dem Secondhand-Shop. Einer von ihnen erinnert mich sehr an meinen Physiklehrer. Er war damals so um die Fünfzig und hatte ein optimistisch-resigniertes Wesen. Resigniert deshalb, weil er in seinem schon viel zu langen Lehrerdasein schon soviel Dummheit erleben musste, dass er seine gesamte pädagogische Energie zunächst in Mitleid und später in verzeihende Güte wandeln musste. Wenn das nicht wahre Umwandlung von Energie ist, denke ich heute, auch wenn ich nach wie vor keinen blassen Schimmer von Physik habe. Vielleicht würde er sich heute aber besser fühlen, wenn er erfahren könnte, dass ich den ersten Hauptsatz der Thermodynamik schon allein durch die energetische Umwandlung seiner Verzweiflung an unserer Begriffsstutzigkeit von damals beweisen kann. Seine optimistische Ader bewahrte er sich, weil er jedes Jahr aufs Neue hoffte, besser beschlagenen Schülern zu begegnen. In meinem Jahrgang wurde er nicht fündig und soweit ich weiß, stand es auch um die Schüler nach mir in physikalischer Hinsicht nicht viel besser.

Ich stehe also noch eine Weile vor der Aula und meine Tochter lässt mich warten. An mir schieben sich drei Jungen vorbei, die offenkundig sehr viel Freude am Physikunterricht, an Computerspielen und mit Fastfood haben. Ich komme gar nicht umhin, in solchen Stereotypen zu denken, denn sie sind der Inbegriff von eingeschlossenen Teenagern, die ihre Jugend vor Monitoren und in den unendlichen Weiten von Bits und Bytes verbringen. Zum Glück kann ich sie als mögliche erste Freunde meiner Tochter ausschließen. Sie wird doch nicht einen solchen Langweiler nach Hause bringen? Obwohl ein Punker oder Rocker, womöglich ein, zwei Jahre älter, auch nicht das Wahre ist. Diese Kerle haben doch nur eins im Kopf in diesem Alter. Ich weiß, wovon ich rede, denn schließlich brachte mich schon allein der Unterwäscheteil des Neckermann-Katalogs zur Verzweiflung.

Meine Tochter kommt mit zwei Freundinnen auf mich zu und ihr Blick signalisiert nicht gerade Freude über meinen Überraschungsbesuch.

„Hallo Papa, was machst du denn hier?“, fragt sie mich einigermaßen gelangweilt in einem Zickenton, der mir gar nicht passt. Ihre Freundinnen schauen mich wie etwas an, was sie jeden Morgen im Spiegel ausdrücken.

„Ich wollte dich abholen und einmal ein Eis essen gehen“, sage ich freudig.

Wenn mich nicht alles täuscht, hat meine Tochter gerade ihre Augen gerollert und das ist etwas, das in mir normalerweise eine Art Raubtiermechanismus freisetzt. In Anbetracht der Anwesenheit der beiden Zicklein neben ihr will ich den Tiger in mir aber einmal bändigen.

„Och Papa, sei mir nicht böse, aber ich habe Laura und Michele versprochen, dass wir zusammen ein Eis essen gehen. Du kannst natürlich mitkommen, aber…“

„Ist schon gut“, höre ich mich sagen, „geht ihr mal. Dann kann ich mal in Ruhe durch die Stadt schlendern und dann nach Hause laufen, wird mir gut tun.“

Meine Tochter küsst mich auf die Wange und verabschiedet sich. Die Mädels neben ihr verabschieden sich nicht. Ich schreibe mir ins Gedächtnis, dass ich meine Tochter fragen will, ob sie tatsächlich stumme Freundinnen hat und ob es für ihre sprachliche Entwicklung nicht besser wäre, Freundinnen zu haben, die sich artikulieren können. Irgendwie komme ich dann nicht weg. Ich stehe weiter einfach so da. Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe, sofern er nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustandes gezwungen wird. Erstes Newtonsches Gesetz, soweit ich mich erinnere. So einfach geht das also. Das Erstaunen und die Enttäuschung über meine Tochter fördern längst verloren geglaubte Physikkenntnisse zu Tage. Ich sollte meinem Lehrer einmal schreiben.

Langsam trabe ich dann aber doch ab, schaue in die Gesichter der Schüler auf den Gängen und frage mich bei jedem, was er wohl von mir denkt. Die sehen alle aus, als hätten sie nicht viel mehr Ahnung von Naturwissenschaften als ich, aber schon in wenigen Jahren können sie meiner Tochter gefährlich nahe kommen. Dann hole ich meine Kleine wahrscheinlich um drei Uhr in der Früh von der Disco ab, um sie vor diesen Visagen zu schützen. Ich glaube, ich bin älter, als ich dachte.

Die Magie des Moments

Sie hatte diese wunderbare Art, mit der Frauen selbst etwas ganz Schlichtes in einen magischen Moment verwandeln können. Wenn sie zum Beispiel ein Glas Rotwein trank, dann führte sie den Rand des Glases ein paar Millisekunden länger als notwendig wäre, an ihren Lippen vorbei. Vielleicht merkte sie das nicht einmal bewusst. Und in dieser Zeit bildete sich ein Rotweinfilm zwischen ihren Lippen und dem Glasrand, der eine so erotische Wirkung entfaltete, wie man sie nie hätte in einem Film oder in einem Buch entstehen lassen können. Ich habe mich oft gefragt, ob ich sie die ganze Zeit nur durch eine rosarote Scheibe hindurch betrachtet habe und alles an ihr wundervoll fand, gleichwohl sie vielleicht für einen Außenstehenden völlig banale Dinge tat. Natürlich habe ich ihr nie gesagt, dass ich sie sehr mochte.
Eines Tages saß sie allein zu Hause. Sie rief mich an und fragte, ob ich nicht zu ihr kommen wolle. „Ja gern“, sagte ich, „einfach so oder gibt es einen Anlass?“
Sie sagte mir, dass es schon einen Anlass gäbe, aber so richtig freuen könne sie sich nicht darüber. An jenem Tag hatte sie Geburtstag und niemand rief sie an. Wenn ich es vorher gewusst hätte, na klar, dann wäre ich mit Sicherheit ein Anrufer gewesen. Der Einzige. Warum sind die Besonderen eigentlich so oft allein? Und was macht sie so traurig? Als ich bei ihr eintraf, hatte sie schon eine halbe Flasche Rotwein getrunken und saß mit ziemlich zerwuselten Haaren vor einem selbst gebackenen Kuchen. „So jung?“, fragte ich mit einem Blick auf die einzige Kerze.
„Nein, nur so allein.“
Ich setzte mich zu ihr. „Wenn du einen Wunsch frei hättest, den ich dir erfüllen könnte, was würdest du dir wünschen?“
„Einen, für den du dich anstrengen müsstest oder einen einfachen?“
„Ganz gleich.“
„Ich würde mir eine Reise ans Meer wünschen. Um mich herum tanzen Menschen, wir singen zusammen und haben jede Menge Spaß. Am Abend gibt es Pizza und Wein und dann sitzen wir einfach so da und lauschen dem Meer.“
Wir fuhren sofort los. Ich schnappte sie mir, setzte sie in mein Auto und fuhr sie ans Meer. Es war kein Mensch dort, der mit uns tanzte und sang, aber wir kauften uns eine Pizza, tranken Wein und hörten dem Meeresrauschen zu. Mehr taten wir nicht. Es waren Stunden der Ruhe und Momente des Glücks. Sie saß an meiner Seite und ich wärmte sie an ihrem Geburtstag. Jeder für sich war weniger allein. Als es uns zu kalt wurde, packten wir unsere Sachen zusammen und fuhren wieder zurück. Ich brachte sie nach Hause und wir verabschiedeten uns. Sie sagte noch, dass es der schönste Geburtstag war, den sie je hatte. Ich bekam einen warmen Kuss auf meine Wange.
Dann ging ich mit einem wohligen Gefühl im Bauch nach Hause.
Ich habe sie danach nie wieder gesehen. Wir haben uns aus den Augen verloren und die Zeit legte eine dicke Staubschicht über die Bilder unseres gemeinsamen Tages am Meer. Wenn ich aber die Hand auf die Stelle an meiner Wange lege, kann ich die Wärme ihres Kusses noch spüren.
Immer, wenn ich an ihrem Grab stehe, frage ich mich, ob ich ihre Blässe gesehen hätte, wenn ich diese rosarote Scheibe vor meinen Augen nicht gehabt hätte. Ob ich etwas hätte tun können. Ich frage mich, ob der Tag am Meer nicht doch zu beschwerlich war oder aber eben ein ganz wichtiges Erlebnis für sie. Aber es kann gar keine Scheibe zwischen uns gewesen sein, denn ich weiß noch genau, wie der Kuchen bei ihr roch. Wie der Rotweinfilm auf ihren Lippen glänzte und wie schön sie aussah, als sie mit einem zarten Lächeln auf den Ozean blickte. Erst jetzt, viele Jahre später, erinnere ich mich an einen Satz von ihr, den sie einfach so an jenem Abend sagte. Mittendrin in unserem innigen Schweigen. „Was das Leben so wertvoll macht, ist nicht das, was wir bekommen, sondern das, was wir verlieren.“ Einer dieser magischen Momente mit ihr, die ich erst viel später und vor allem nur durch sie verstanden habe.