Männer im Büro

Mein Büro sieht so gewöhnlich aus wie immer. Ich auch und ich sitze da wie immer. Jegliche Veränderungen dieser Zustände scheinen unendlich weit weg. Vielleicht will ich auch gar nichts von alledem verändern. Vielleicht bin ich zu faul, zu behäbig, zu einsam geworden. Ich habe wie so häufig in den vergangenen Monaten mein Soll nicht erfüllt. Die Arbeit wird immer mehr, der Wahnsinn der Beteiligten immer größer und die Zeit für die Bearbeitung immer knapper. Deshalb liegen auf meinem Schreibtisch unzählige Stapel mit Vorgängen, an die ich mich zum Teil erst wieder erinnere, wenn ich sie vor mir sehe. Ich sitze vor den Papiertürmen und weiß genau, dass ich am Montag erneut damit beginnen werde, in jedem dieser Berge danach zu schauen, was ganz wichtig ist und was nicht. Dann werde ich die oberen Blätter nach unten räumen und mir Gewissheit darüber verschaffen, was ich wie schieben kann, in der Hoffnung, dass sich ein paar Vorgänge durch bloßen Zeitablauf erledigen werden.
»Was, die Problematik mit Kreditor sowieso?«
»Der ist letzte Woche gestorben.«
»Das ist ja traurig! Und die Nachfolge?«
»Die ist nicht geregelt.«
Und schon ist der Fall vorläufig abgeschlossen. Tatsächlich lösen werde ich allerdings keines der Papier gewordenen Probleme. Sie machen mir auch nicht wirklich Spaß, denn die Kreditorenbuchhaltung ist weniger ein rauschendes Fest für mich, als vielmehr eine täglich wiederkehrende Bestattung eines Teils von mir. Eben jenes Teils, der trotzdem jeden Morgen aufsteht und in dieses Büro schlurft. Es ist diese dämonische Hälfte meines Inneren, die über das andere in mir siegt. Diese immer leiser werdende Stimme in mir, die sagt, dass ein regelmäßiges Gehalt doch nicht alles im Leben sein kann, höre ich kaum noch.
Es ist also genügend Raum für die wirklich wichtigen Überlegungen in meinem Kopf, wie ich das Wochenende mit den einzig tauglichen Möglichkeiten der Ablenkung verbringen kann. Also entweder mit Schlaf von Freitag bis Montag oder aber einer recht verlockend scheinenden alkoholischen Herausforderung. Doch genau in dem Moment, als ich träumerisch abwäge, den Freitag mit drei wilden Teenagern, also entweder mit einem 14-jährigen Oban, dem kleinen Paddy oder dem 18-jährigen Glenfiddich ausklingen zu lassen, öffnet sich, ohne ein hörbares Klopfen, die Tür und Krautkrämer seht vor mir.

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Helmut Krautkrämer ist so etwas wie unser leuchtendes Mahnmal und abschreckendes Beispiel zugleich. Er zeigt uns am lebenden Exponat die negativen Folgen von schwindsüchtiger Kommunikation und intellektueller Diarrhö. Mit seinem übergroßen, vollfleischigen und fahlen Gesicht nimmt er schon alles Licht, was eigentlich durch die Flurbeleuchtung in mein Zimmer fallen kann. Für sein dünnes, blondes Haar, das nur noch sehr spärlich auf seinem Kopf sitzt, kann er sicher nichts, für den stattlichen Pornobalken unter seiner Nase dagegen sehr wohl. Seine auch noch mit scheinbar unbändigem Stolz präsentierte Adipositas setzt der überaus adretten Erscheinung des Abteilungsleiters aber die Krone auf. Doch all seine äußere Erscheinung wäre im Grunde zu ertragen, wenn er nicht die Angewohnheit hätte, ständig und dazu auch noch immer ungefragt zu reden. Es ist sicher im Bereich des Möglichen, Dummschwätzer zu ertragen und ihnen einfach das Podium und die Anerkennung zu geben, damit sie sich in Ruhe produzieren können. Bei Helmut Krautkrämer ist dies aber unmöglich. Nur die organische Unmöglichkeit verhindert es, dass Menschen nach einem Dialog mit ihm aus den Ohren bluten. Vielleicht gab es aber auch schon Fälle, die einfach nur nicht gelöst und bekannt wurden. Er ist in erster Linie fernab seiner fachlichen Tabula Rasa in seinem Hirn so etwas wie ein wandelndes Schlagwörterbuch. Er ist also immer im Bilde, kommt mit allen auf denselben Nenner, will auf dem Laufenden gehalten werden und bleibt ständig am Ball. Grundlage seiner allumfassenden Dialektik bildet seine fast fünfunddreißigjährige Berufserfahrung, die er intensiv dazu genutzt hat, seine Vorurteile auf- und auszubauen. Weil er aber aus seiner Sicht ein Ausbund an Loyalität und Offenheit ist, treibt er sich in stark zunehmender Häufigkeit bei irgendwelchen Seminaren rum. Aus der Sicht seiner Untergebenen ist seine Seminarabwesenheit einfach nur ein Zeichen für zwei Dinge: Er hat zum einen nichts wirklich Wichtiges zu tun. Und zum anderen funktioniert der Laden auch ohne ihn bestens.
Im Laufe der Jahre wuchs unsere Firma, stellte immer mehr Personal ein und da Krautkrämer offenkundig in einer Führungsposition ohne produktiven Ansatz den wenigsten Schaden anrichten konnte, wurde ihm das Ressort des Rechnungswesens als Leiter übertragen. Seitdem er diese Stelle höchst offiziell ausfüllt, entfaltet er seine Inkompetenz mit aller Macht und Offenheit. Immer, wenn er von einem seiner Seminare zu uns kommt, lässt er uns an seinen Erleuchtungen teilhaben und wir werden alle gleichzeitig zu seinen Jüngern. Natürlich bleiben »Vorsicht ist besser als Nachsicht« und »Der Zweck heiligt die Mittel« seine bevorzugten Aussagen und man möchte darauf wetten, dass er als Kind Büchmanns »Geflügelte Worte« jeden Tag mindestens einmal las. Doch nunmehr sind auch esoterisch angehauchte Sinnsprüche wie »Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt« in seinem Repertoire. Das Dumme ist nur, dass Krautkrämer diese Aussagen auch dann trifft, wenn jemand aufsteht, um ein Blatt Papier aus dem Drucker zu holen.
Krautkrämer, wie immer in einer Weste gekleidet, die in keiner Weise mit seinen sonstigen Kleidungsstücken harmoniert, steht also vor mir, tupft mit einem Stück Textil, das vor langer Zeit einmal ein Taschentuch gewesen sein könnte, seine Stirn trocken und hebt seine Stimme im vertrauten Tremolo an:
»Ohne Fleiß keinen Preis, mein Lieber! Wie stehen denn die Aktien bei dir? Alle Kreditoren im Blick?«
»Es geht so. Ich mach auf jeden Fall gleich Schluss. Wenn man so will, endet jede Reise einmal mit dem letzten Schritt. So auch mein Arbeitstag.« Ich grinse ihn breit an.
»Hört, hört! Aber ich muss dich noch kurz aufhalten. Es gibt da ein Seminar, das wir gebucht haben«, er hält mir eine Anmeldung vor die Nase, »und ich kann leider nicht hingehen. Deshalb brauchen wir einen Ersatz. Schließlich ist das gute Stück bezahlt und wir kriegen ja auch nichts geschenkt. Du bekommst die Tage dafür frei und nimmst teil. Was sagst du?«
Ganz egal, was es ist, es ist besser als die Stapel vor mir, die in meiner Abwesenheit auf gar keinen Fall weniger werden. Ich strahle Krautkrämer an und schalmeie ihm entgegen: »Aber klar doch, Helmut, das mache ich gern! Und außerdem: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!«
Er legt den Kopf kurz auf die rechte Schulter und sieht mich verächtlich von der Seite an. Für einen Moment habe ich den Eindruck, als gäbe es in seinem Hirn tatsächlich ein Areal, das einen Gedanken in der Art von »Hey, da veralbert mich doch einer! Der nimmt mich doch hoch!« zulassen kann. Seine Reaktion ist wohl aber etwas rein Anatomisches. Er sagt nur:
»Eben. Das hast du gut erkannt. Und außerdem ist es schön, dass du gleich zusagst. Du weißt ja, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich lasse dir die Unterlagen hier, damit du weißt, wo du wann hinfahren musst. Das mit dem Bildungsurlaub regele ich für dich.«
Im Hinausgehen dreht sich »Helmut, die Weste« noch einmal um.
»Ach, tu mir bitte einen Gefallen, ja. Streng dich an und nutze die Tage. Es bekommt nicht jeder eine solche Chance! Ohne Fleiß keinen Preis! Es bleibt natürlich dabei, dass, wenn ein Affe in die Unterlagen schaut, freilich kein Apostel heraussehen kann. Aber dümmer macht es dich auf gar keinen Fall!«
Ich erinnere mich in diesem Moment wieder an jenen Augenblick vertrauter Glückseligkeit, den wir zur letztjährigen Weihnachtsfeier teilen durften. Damals saß er neben mir, mit Alkohol und Sinnsprüchen für Dutzende Poesiealben gefüllt und blickte versonnen auf unser Bürowunder Frau Schwab. Ich befürchtete schon eine ganze Welle von Glückssprüchen, das Weibliche betreffend, doch Krautkrämer versorgte mich mit einer völlig lebensnahen Weisheit.
»Schau Dir doch einmal unsere Frau Schwab an. Meine Herren, was für ein Geschöpf. Wenn die nicht verheiratet wäre, hätte ich sie mir schon lange gegriffen. Und weißt du warum?«
Ich schüttelte artig meinen Kopf.
»Weil ich weiß, was Frauen wollen. Mir macht keine was vor …«
Ich blendete den Monolog für einen Moment aus dem Universum meiner Wahrnehmungen aus, um mich wirklich auf Frau Schwab konzentrieren zu können und darüber hinaus nicht die unendlich blöde Frage aufwerfen zu müssen, warum Krautkrämer immer noch solo war. Ich kam wieder zu uns zurück, als er mir gerade etwas Wichtiges mit auf den Weg gab.
»… Merke Dir jedenfalls das Eine. Wenn Du im Supermarkt einmal eine tolle Frau siehst, die Tampons in ihrem Korb hat, vergiss es. Schau einfach eine Woche später nach, ob sie wieder einkaufen geht, aber für das betreffende Wochenende solltest Du sie vergessen.«
Ich schaute ihn verworren an und war mir sicher, dass jede Frau, die einen gierig dreinblickenden Helmut Krautkrämer auf Jagd gegenüberstand, instinktiv entweder eine Packung Tampons, eine Stiege Babybrei samt Windeln Größe eins oder eine Familienpizza in ihren Korb warf, um einer Anmache zu entgehen. Um ihn nicht zu enttäuschen, sagte ich ihm damals, dass er wirklich sehr clever sei und wüsste, wie die Frauen ticken. Ich verschwieg ihm auch, dass ich eine Packung Tampons überhaupt nicht problematisch fand. Viel schlimmer sind die Frauen, die an der Kasse ihre Payback-Karte zücken oder aber diese blöden Abschnitte aus einer Werbebeilage, für die sie zehn Prozent Rabatt bekommen. Das sind Barrieren im Kopf, die man nie herausbekommt. Ein Tampon ist in wenigen Sekunden entfernt.

Schatz, wie war dein Tag?

 

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Sie grinste ihn zu Beginn an wie immer. Selbstgefällig und um ihre Machtposition wissend. Das „NEIN“ fest im Blick verankert, die Antragsablehnung mit jeder Faser ihres Körpers absorbiert. Im Nachhinein war er etwas enttäuscht. Er hatte sich größere Hoffnungen für diesen Termin gemacht. Wieder wollte Frau Liessmann seinen Antrag besprechen und er war sich absolut sicher, dass sie ihn ablehnen würde.

Nun stand er vor ihr und das erhebende Gefühl blieb aus. Das war so nicht geplant. Der ganze Hass sollte sich in Freude umkehren. Das sterbensfahle Weiß der Amtsstube mit den albernen Urlaubsfotos von Frau Liessmann sollte in Farben explodieren. Das Grün des Teppichs sollte endlich für Belebung stehen oder mindestens Hoffnung geben. Eine Art Genuss sollte sich in ihm breitmachen, ein befreiender Schrei seine Kehle verlassen, der Puls nach oben schnellen. Doch nichts passierte.

Sie lag einfach nur da. Drei Schüsse in den Kopf, in ihren Antragstellerabweisungsblick mit Designerbrille. Eine Kugel war aus dem Hinterkopf ausgetreten und Knochensplitter, Blut und Hirn verteilten sich hinter ihrem Stuhl an der Wand. Das war schön, aber nicht befreiend genug.

Etwas Schweres musste her, etwas mit Wucht. Ah! Wozu brauchte Frau Liessmann einen solch überdimensionierten Locher? Ein gußeiserner Fuß und ein Hebel, der in der Lage war, dicke Bücher zu lochen. So dick konnten die Akten bei ihr gar nicht werden. Schließlich genehmigte sie nichts. Nun diente der Locher einer guten Sache. Er kniete sich vor sie und konnte gar nicht mehr aufhören. Wieder und wieder hob der das Ungetüm über seinen Kopf und schlug es mit aller Kraft auf das Gesicht der Toten. Das Blut spritzte auf Ordner und Anträge, auf den kotzgrünen Teppich auf ihre gelbe Bluse. Dann kam noch das grau-blaue Mischmasch ihres Hirns hinzu und endlich, ja endlich, kam Genugtuung in ihm auf. Frau Liessmann mit ihrem blöden Antrag! Nie wieder würde sie jemandem gegenübertreten wie eine Gottheit einem Bittsteller, sich herrschaftlich vor ihm aufbauen und ihr Lieblingswort mit ihren vollen Lippen formen: „NEIN!“

Nun stürzten sie sich auf ihn, rissen ihn weg von Frau Liessmann und dem, was von ihr übrig war.Drei kräftige Männer schlugen wild auf ihn ein, zerrten ihn weg von der Leiche und endlich war es soweit. Warm durchflutete es ihn und er begann zu lachen.

Senfglas in Lübbenau

Es wird immer schwieriger, die Waren zu verkaufen. Das denkt Pavel, als er seinen Wagen vom Markt schiebt. Von früh um sieben bis abends um acht steht er jeden Tag auf Märkten. Pavel kommt aus Bautzen und fährt zwischen seinem Heimatort, Kamenz, Hoyerswerda, Vetschau und Lübbenau hin und her. Er verkauft vor allem an Touristen Kamenzer Würstchen, Sorbische Leberwurst, aber auch die Klassiker wie Original Spreewälder Gurken und Bautzner Senf. So landet die sorbische Tradition wenigstens in den Bäuchen, wenn es schon mit den Köpfen nicht klappt. Endlich ist das Tagwerk geschafft. Die Tage sind kürzer geworden und es dämmert bereits, als er zusammenpackt und alles im Transporter und auf den Anhänger verladen hat. Wie jeden Abend, wenn er startet, ruft er seine Frau an.
»Hallo Schatz, ich starte jetzt«, legt er gleich los.
»Schön! Aber heute bist du in Lübbenau, nicht wahr? Das heißt, dass es erst später wird, ja?«, fragt ihn seine Frau, die sich insgeheim schon auf einen angenehmen Weiberabend daheim in Bautzen freut.
»Ja, tut mir leid«, sagt Pavel, »mit unserem gemeinsamen Abendessen wird es heute nichts. Sei mir nicht böse, ja?«
»Mach dir keine Sorgen, mein Liebling, ich mache es mir gemütlich und warte auf dich«, sagt sie, während sie in der Programmzeitung blättert. »Vielleicht kommt Ina noch rum und leistet mir Gesellschaft«. Hatte Ina nicht gesagt, dass sie eine DVD mitbringt? Eineinhalb Stunden wird Pavel mindestens brauchen.
»Gut, bis später dann«, antwortet Pavel.
Dann startet er den Transporter und fährt los. Er ist müde und erschöpft vom Markttag. Den lieben langen Tag nur Reden und Überzeugen. »Wollen Sie probieren?«, »Ich kann Ihnen auch einen Rabatt geben.«, »Das ist alles ganz natürlich und ohne Konservierungsstoffe.« Immer wieder dieselbe Leier, um ein paar Euro zu verdienen. Von denen er dann die Rate für den Wagen zahlt, die Standmiete, die Krankenversicherung und ein klein wenig fürs Leben. Zumindest von dem Rest, den ihm dann noch das Finanzamt lässt. Nicht zu vergessen der Beitrag für den Traditionsverein der Sorben. Er schaltet das Radio ein. Der Konflikt in Syrien spitzt sich zu. Präsident Backaroma will einen Blitzkrieg und braucht dazu die Zustimmung des Kongresses. Blitzkrieg. Wie schön das klingt, denkt Pavel. Und als Anlass brauchen sie doch am Ende nur einen neuen Sender Gleiwitz, ein neues Attentat in Sarajevo. Einfach nur ein paar unwiderlegbare Beweise. Die Geschichte des Krieges wird immer vom Sieger geschrieben, war es nicht so? Wie er so gedankenverloren den Wagen lenkt, bekommt er gerade noch mit, dass ihm auf einer Brücke ein Mopedfahrer so überholt, dass er scharf ausweichen muss. Der Transporter gerät ins Schlingern und der Anhänger kippt fast um. Endlich kommt er zum Stehen, sein Puls hämmert in seinen Adern und er schnauft. Pavel sieht in den Rückspiegel. Nichts passiert. Auf den ersten Blick zumindest. Der Mopedfahrer ist auf und davon. Er steigt aus und geht zum Anhänger. Die Plane hat sich gelöst und eine Stiege Bautzner Senf ist heruntergefallen. Auf einer Strecke von fünf Metern liegen die Gläser verteilt. Nun sieht er auch, dass ein paar Gläser bedrohlich nah am Rand der Brücke liegen. Er geht bis zur Brüstung und schaut nach unten. So ein Mist! Ein Senfglas ist nach unten gestürzt und es muss einem Passanten direkt auf den Kopf gefallen sein. Der liegt auf dem Boden, sein Kopf blutet und um ihn herum steht eine Menschentraube. Einige zeigen nach oben und Pavel spürt sofort, dass Wegrennen ziemlich sinnlos sein wird. Er muss die Verantwortung dafür tragen. Und vor allem wird es länger dauern. Er ruft seine Frau an.
»Du Schatz, ich hatte fast einen Unfall.«
»Was?? Geht es dir gut? Soll ich zu dir kommen?«, fragt seine Frau besorgt und unterdrückt dabei das Knirschen der Chips in ihrem Mund.
»Nein, das musst du nicht. Mir geht es gut. Ich musste nur einem Idioten auf einem Moped ausweichen, dabei ist eine Stiege mit Senf vom Anhänger gerutscht und da ich auf einer Brücke war, ist leider ein Glas nach unten gefallen. Und das hat einen Mann am Kopf getroffen. Es war ja keine Absicht von mir. Warum sollte ich das tun? Ich verübe schließlich keinen Anschlag mit einem Senfglas! Aber nach ihm schauen muss ich schon.«
Sie versichern sich noch eine Weile, dass wirklich alles in Ordnung ist und Pavel sich um den Verletzten kümmern kann, während die Frau sich bei Chips und Wein den Abend um die Ohren schlagen muss. Pavel steigt schweren Schrittes die Stufen hinab und bewegt sich auf den Verletzten zu.
Derweil bewegen sich unzählige Datenmengen in einem scheinbaren Labyrinth. Gesprächsfetzen werden aufgezeichnet, ausgewertet, gesammelt und verteilt. Spracherkennungsprogramme lassen Prüfungsalgorithmen ablaufen. Sie sind genau geeicht und erkennen selbst kryptische Informationen. In Fort Mead sitzt Pawel, Urenkel sorbischer Einwanderer in die USA, vor seinem Bildschirm und erhält eine verdächtige Information.
»Anschlag mit Senfgas.«
Er spielt den Mitschnitt noch einmal ab.
»Anschlag mit Senfgas«, ganz klar!
Oh Gott! Das kann doch nicht wahr sein. Vor allem nicht, weil es ganz eindeutig aus Deutschland kommt. Ein Anschlag mit Senfgas in Deutschland? Er hört sich die Aufzeichnung noch einmal an. Dann schaut er auf die Nummer, den Aufnahmeort und stellt die Person fest. Ein Pavel. Lustig. Ein Namensvetter in Deutschland. Und ein Sorbe ist er auch noch. Er lässt die Datenbank arbeiten. Oha. Dieser Pavel tritt offen für die Unabhängigkeit der Sorben in Deutschland ein und fordert die Abspaltung. Das liegt offen auf der Hand: Ein Rebell, der die Unabhängigkeit der Sorben in Deutschland fordert, plant einen Anschlag mit Senfgas, um seine Forderungen durchzusetzen. Nun ist Eile geboten. Pawel greift zum Handbuch für Notfälle und studiert die Abläufe.
Einige Stunden später beugen sich zehn Männer und zwei Frauen an einem Tisch über Ausdrucke und verfolgen auf einem Flatscreen die Datenanalyse. Ganz eindeutig. Ein Senfgasanschlag der Sorben Deutschland! Das kann unmöglich sein! Aber die Datenlage ist eindeutig. Präsident Backaroma schaut zu Außenminister Kerrygold. »Was sollen wir tun?«
»Die USS George H.W. Bush ankert vor Hamburg«, antwortet Kerrygold. »Eigentlich sollen unsere Jungs vor Beirut in Stellung gehen, um Damaskus ins Visier zu nehmen.«
»Hm«, antwortet Backaroma weltmännisch. »Wie schnell können sie in …« Er schaut noch einmal in die Akten »… Lübbenau sein?«
»Über die Nord- und Ostsee, die Oder und die Neiße geht das ganz schnell.«
»Wir müssen die Zentrale der Rebellen ausschalten!« Backaroma merkt, dass ihm keiner zuhört. Wie immer in diesem Sauladen. Und nicht einmal eine Kamera ist in der Nähe.
»Hm«, räuspert er sich und hat sofort die volle Aufmerksamkeit. »Bringt die Kameras her!«, befielt er einem Statisten, der hastig das Tablett mit den Häppchen beiseite stellt und den Raum verlässt. Ein Pult wird herbeigeholt, eine Kamera davor drapiert. Backaroma lässt sich pudern, dann tritt er vor das Pult. Die Kamera läuft.
»Guten Morgen, liebe Landsleute, liebe Brüder und Schwestern in Deutschland! In einer der schwersten Stunden stehen wir unserem Bündnispartner Deutschland zur Seite. Wir werden erstens die Lübbenau-Frage, zweitens die Frage des Korridors der Sorben lösen und drittens dafür zu sorgen, dass im Verhältnis Deutschlands zu den Sorben eine Wendung eintritt, eine Änderung, die ein friedliches Zusammenleben sicherstellt. Ich bin dabei entschlossen, so lange zu kämpfen, bis entweder die derzeitige provisorische sorbische Regierung unter Pavel geneigt ist, diese Voraussetzung herzustellen, oder bis eine andere sorbische Regierung dazu geneigt ist. Ich will von den deutschen Grenzen das Element der Unsicherheit, die Atmosphäre ewiger bürgerkriegsähnlicher Zustände entfernen. Ich will dafür sorgen, dass im Osten der Friede an der Grenze kein anderer ist, als wir ihn an unseren anderen Grenzen kennen. Ich will dabei die notwendigen Handlungen so vornehmen, dass sie nicht dem widersprechen, was ich Ihnen hier und im Kongress selbst als Vorschläge an die übrige Welt bekanntgab. Das heißt, ich will nicht den Kampf gegen Frauen und Kinder führen. Ich habe meinen Streitkräften den Auftrag gegeben, sich auf militärische sorbische Objekte bei ihren Angriffen zu beschränken. Wenn aber der Gegner daraus einen Freibrief ablesen zu können glaubt, seinerseits mit umgekehrten Methoden kämpfen zu können, dann wird er eine Antwort erhalten, dass ihm Hören und Sehen vergeht! Die Sorben haben heute abend zum erstenmal auf dem Territorium eines Bündnispartners mit Senfgas angegriffen. Ab 5.45 Uhr wird zurückgeschossen! Und ab dann wird Senfgas mit Senfgas vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des amerikanischen Volkes und seiner Bündnispartner gewährleistet ist. Und ich habe hier und heute wieder jenen Rock angezogen, der mir einst selbst der heiligste und teuerste war. Ich werde ihn nur ausziehen nach dem Sieg, oder ich werde dieses Ende nicht erleben!«
»Klasse Rede, Mister President«, sagt Kerrygold. »Die Aufzeichnung geht dann gleich raus an alle Sender und ich habe den Marschbefehl an unsere Jungs weitergeleitet.«
Währenddessen freut sich ein erschöpfter Pavel, als er sich im Krankenhaus über den schlafenden Verletzten beugt, dass dieser nur eine kleinere Wunde und eine Gehirnerschütterung hat. Keine bleibenden Schäden, das Senfglas hat ihn nur gestriffen. Glück gehabt.

Vom Glück auf der Wiese

Ich saß heute nach einem erfrischenden Regenguss auf einer Wiese, mein Hintern so nass wie meine Haare, und bestaunte die Natur. Ich genoss die Frische nach dem Regen, den ganz besonderen Geruch der nassen Gräser und ich freute mich einfach nur darüber, dass ich dort sein konnte. Einfach nur sein. Mehr nicht. Die Umgebung und der Moment berührten mich und ich fragte mich, warum das so ist. Ein paar Augenblicke der Ruhe, des Glücks und der Liebe. Geschenkt bekommen für gar nichts, nur fürs Sein. Was sollte ich tun? Ein Foto machen? Gefühle lassen sich nicht in Pixel umwandeln, damit sie die Zeit überdauern. Gefühle sind präsent und lassen sich auch nicht in ein Einweckglas packen, bei 100 Grad für zwei Stunden kochen und dann aus dem Keller holen, wenn es uns mies geht.
Wahrscheinlich sind wir Menschen so strukturiert, dass wir unser Glück so lange und so nah bei uns haben wollen, wie es nur geht. Und wenn ich, von diesem Wunsch beseelt, damit angefangen hätte, die Gräser einzusammeln, jeden Halm einzeln an mich zu pressen, mir die Büsche und Blumen vereinnahmt hätte, dann hätte ich hoffen können, dass mein Glück ganz nah bei mir ist. Weil ich es ganz fest umschließe, niemand es mir wegnehmen und es mich nicht verlassen kann.
So zerstören wir unser Glück. Drücken wir zu fest, wird die Berührung zu Druck. Das, was wir bei uns behalten wollen, zerdrücken wir und abgesehen davon merken wir beim Zerdrücken gar nicht mehr, wie wunderbar und einzigartig die Gräser, Blumen und Zweige sind, weil wir auch sie zerstören. Nicht zuletzt tut es uns selbst weh, wenn wir fest zudrücken. Aus der Idee, das wunderbare Glück zu assimilieren, wird eine schmerzhafte Vereinnahmung. Dabei ist es ganz einfach, sich von der Schönheit berühren zu lassen.