Mein Büro sieht so gewöhnlich aus wie immer. Ich auch und ich sitze da wie immer. Jegliche Veränderungen dieser Zustände scheinen unendlich weit weg. Vielleicht will ich auch gar nichts von alledem verändern. Vielleicht bin ich zu faul, zu behäbig, zu einsam geworden. Ich habe wie so häufig in den vergangenen Monaten mein Soll nicht erfüllt. Die Arbeit wird immer mehr, der Wahnsinn der Beteiligten immer größer und die Zeit für die Bearbeitung immer knapper. Deshalb liegen auf meinem Schreibtisch unzählige Stapel mit Vorgängen, an die ich mich zum Teil erst wieder erinnere, wenn ich sie vor mir sehe. Ich sitze vor den Papiertürmen und weiß genau, dass ich am Montag erneut damit beginnen werde, in jedem dieser Berge danach zu schauen, was ganz wichtig ist und was nicht. Dann werde ich die oberen Blätter nach unten räumen und mir Gewissheit darüber verschaffen, was ich wie schieben kann, in der Hoffnung, dass sich ein paar Vorgänge durch bloßen Zeitablauf erledigen werden.
»Was, die Problematik mit Kreditor sowieso?«
»Der ist letzte Woche gestorben.«
»Das ist ja traurig! Und die Nachfolge?«
»Die ist nicht geregelt.«
Und schon ist der Fall vorläufig abgeschlossen. Tatsächlich lösen werde ich allerdings keines der Papier gewordenen Probleme. Sie machen mir auch nicht wirklich Spaß, denn die Kreditorenbuchhaltung ist weniger ein rauschendes Fest für mich, als vielmehr eine täglich wiederkehrende Bestattung eines Teils von mir. Eben jenes Teils, der trotzdem jeden Morgen aufsteht und in dieses Büro schlurft. Es ist diese dämonische Hälfte meines Inneren, die über das andere in mir siegt. Diese immer leiser werdende Stimme in mir, die sagt, dass ein regelmäßiges Gehalt doch nicht alles im Leben sein kann, höre ich kaum noch.
Es ist also genügend Raum für die wirklich wichtigen Überlegungen in meinem Kopf, wie ich das Wochenende mit den einzig tauglichen Möglichkeiten der Ablenkung verbringen kann. Also entweder mit Schlaf von Freitag bis Montag oder aber einer recht verlockend scheinenden alkoholischen Herausforderung. Doch genau in dem Moment, als ich träumerisch abwäge, den Freitag mit drei wilden Teenagern, also entweder mit einem 14-jährigen Oban, dem kleinen Paddy oder dem 18-jährigen Glenfiddich ausklingen zu lassen, öffnet sich, ohne ein hörbares Klopfen, die Tür und Krautkrämer seht vor mir.
Helmut Krautkrämer ist so etwas wie unser leuchtendes Mahnmal und abschreckendes Beispiel zugleich. Er zeigt uns am lebenden Exponat die negativen Folgen von schwindsüchtiger Kommunikation und intellektueller Diarrhö. Mit seinem übergroßen, vollfleischigen und fahlen Gesicht nimmt er schon alles Licht, was eigentlich durch die Flurbeleuchtung in mein Zimmer fallen kann. Für sein dünnes, blondes Haar, das nur noch sehr spärlich auf seinem Kopf sitzt, kann er sicher nichts, für den stattlichen Pornobalken unter seiner Nase dagegen sehr wohl. Seine auch noch mit scheinbar unbändigem Stolz präsentierte Adipositas setzt der überaus adretten Erscheinung des Abteilungsleiters aber die Krone auf. Doch all seine äußere Erscheinung wäre im Grunde zu ertragen, wenn er nicht die Angewohnheit hätte, ständig und dazu auch noch immer ungefragt zu reden. Es ist sicher im Bereich des Möglichen, Dummschwätzer zu ertragen und ihnen einfach das Podium und die Anerkennung zu geben, damit sie sich in Ruhe produzieren können. Bei Helmut Krautkrämer ist dies aber unmöglich. Nur die organische Unmöglichkeit verhindert es, dass Menschen nach einem Dialog mit ihm aus den Ohren bluten. Vielleicht gab es aber auch schon Fälle, die einfach nur nicht gelöst und bekannt wurden. Er ist in erster Linie fernab seiner fachlichen Tabula Rasa in seinem Hirn so etwas wie ein wandelndes Schlagwörterbuch. Er ist also immer im Bilde, kommt mit allen auf denselben Nenner, will auf dem Laufenden gehalten werden und bleibt ständig am Ball. Grundlage seiner allumfassenden Dialektik bildet seine fast fünfunddreißigjährige Berufserfahrung, die er intensiv dazu genutzt hat, seine Vorurteile auf- und auszubauen. Weil er aber aus seiner Sicht ein Ausbund an Loyalität und Offenheit ist, treibt er sich in stark zunehmender Häufigkeit bei irgendwelchen Seminaren rum. Aus der Sicht seiner Untergebenen ist seine Seminarabwesenheit einfach nur ein Zeichen für zwei Dinge: Er hat zum einen nichts wirklich Wichtiges zu tun. Und zum anderen funktioniert der Laden auch ohne ihn bestens.
Im Laufe der Jahre wuchs unsere Firma, stellte immer mehr Personal ein und da Krautkrämer offenkundig in einer Führungsposition ohne produktiven Ansatz den wenigsten Schaden anrichten konnte, wurde ihm das Ressort des Rechnungswesens als Leiter übertragen. Seitdem er diese Stelle höchst offiziell ausfüllt, entfaltet er seine Inkompetenz mit aller Macht und Offenheit. Immer, wenn er von einem seiner Seminare zu uns kommt, lässt er uns an seinen Erleuchtungen teilhaben und wir werden alle gleichzeitig zu seinen Jüngern. Natürlich bleiben »Vorsicht ist besser als Nachsicht« und »Der Zweck heiligt die Mittel« seine bevorzugten Aussagen und man möchte darauf wetten, dass er als Kind Büchmanns »Geflügelte Worte« jeden Tag mindestens einmal las. Doch nunmehr sind auch esoterisch angehauchte Sinnsprüche wie »Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt« in seinem Repertoire. Das Dumme ist nur, dass Krautkrämer diese Aussagen auch dann trifft, wenn jemand aufsteht, um ein Blatt Papier aus dem Drucker zu holen.
Krautkrämer, wie immer in einer Weste gekleidet, die in keiner Weise mit seinen sonstigen Kleidungsstücken harmoniert, steht also vor mir, tupft mit einem Stück Textil, das vor langer Zeit einmal ein Taschentuch gewesen sein könnte, seine Stirn trocken und hebt seine Stimme im vertrauten Tremolo an:
»Ohne Fleiß keinen Preis, mein Lieber! Wie stehen denn die Aktien bei dir? Alle Kreditoren im Blick?«
»Es geht so. Ich mach auf jeden Fall gleich Schluss. Wenn man so will, endet jede Reise einmal mit dem letzten Schritt. So auch mein Arbeitstag.« Ich grinse ihn breit an.
»Hört, hört! Aber ich muss dich noch kurz aufhalten. Es gibt da ein Seminar, das wir gebucht haben«, er hält mir eine Anmeldung vor die Nase, »und ich kann leider nicht hingehen. Deshalb brauchen wir einen Ersatz. Schließlich ist das gute Stück bezahlt und wir kriegen ja auch nichts geschenkt. Du bekommst die Tage dafür frei und nimmst teil. Was sagst du?«
Ganz egal, was es ist, es ist besser als die Stapel vor mir, die in meiner Abwesenheit auf gar keinen Fall weniger werden. Ich strahle Krautkrämer an und schalmeie ihm entgegen: »Aber klar doch, Helmut, das mache ich gern! Und außerdem: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!«
Er legt den Kopf kurz auf die rechte Schulter und sieht mich verächtlich von der Seite an. Für einen Moment habe ich den Eindruck, als gäbe es in seinem Hirn tatsächlich ein Areal, das einen Gedanken in der Art von »Hey, da veralbert mich doch einer! Der nimmt mich doch hoch!« zulassen kann. Seine Reaktion ist wohl aber etwas rein Anatomisches. Er sagt nur:
»Eben. Das hast du gut erkannt. Und außerdem ist es schön, dass du gleich zusagst. Du weißt ja, wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich lasse dir die Unterlagen hier, damit du weißt, wo du wann hinfahren musst. Das mit dem Bildungsurlaub regele ich für dich.«
Im Hinausgehen dreht sich »Helmut, die Weste« noch einmal um.
»Ach, tu mir bitte einen Gefallen, ja. Streng dich an und nutze die Tage. Es bekommt nicht jeder eine solche Chance! Ohne Fleiß keinen Preis! Es bleibt natürlich dabei, dass, wenn ein Affe in die Unterlagen schaut, freilich kein Apostel heraussehen kann. Aber dümmer macht es dich auf gar keinen Fall!«
Ich erinnere mich in diesem Moment wieder an jenen Augenblick vertrauter Glückseligkeit, den wir zur letztjährigen Weihnachtsfeier teilen durften. Damals saß er neben mir, mit Alkohol und Sinnsprüchen für Dutzende Poesiealben gefüllt und blickte versonnen auf unser Bürowunder Frau Schwab. Ich befürchtete schon eine ganze Welle von Glückssprüchen, das Weibliche betreffend, doch Krautkrämer versorgte mich mit einer völlig lebensnahen Weisheit.
»Schau Dir doch einmal unsere Frau Schwab an. Meine Herren, was für ein Geschöpf. Wenn die nicht verheiratet wäre, hätte ich sie mir schon lange gegriffen. Und weißt du warum?«
Ich schüttelte artig meinen Kopf.
»Weil ich weiß, was Frauen wollen. Mir macht keine was vor …«
Ich blendete den Monolog für einen Moment aus dem Universum meiner Wahrnehmungen aus, um mich wirklich auf Frau Schwab konzentrieren zu können und darüber hinaus nicht die unendlich blöde Frage aufwerfen zu müssen, warum Krautkrämer immer noch solo war. Ich kam wieder zu uns zurück, als er mir gerade etwas Wichtiges mit auf den Weg gab.
»… Merke Dir jedenfalls das Eine. Wenn Du im Supermarkt einmal eine tolle Frau siehst, die Tampons in ihrem Korb hat, vergiss es. Schau einfach eine Woche später nach, ob sie wieder einkaufen geht, aber für das betreffende Wochenende solltest Du sie vergessen.«
Ich schaute ihn verworren an und war mir sicher, dass jede Frau, die einen gierig dreinblickenden Helmut Krautkrämer auf Jagd gegenüberstand, instinktiv entweder eine Packung Tampons, eine Stiege Babybrei samt Windeln Größe eins oder eine Familienpizza in ihren Korb warf, um einer Anmache zu entgehen. Um ihn nicht zu enttäuschen, sagte ich ihm damals, dass er wirklich sehr clever sei und wüsste, wie die Frauen ticken. Ich verschwieg ihm auch, dass ich eine Packung Tampons überhaupt nicht problematisch fand. Viel schlimmer sind die Frauen, die an der Kasse ihre Payback-Karte zücken oder aber diese blöden Abschnitte aus einer Werbebeilage, für die sie zehn Prozent Rabatt bekommen. Das sind Barrieren im Kopf, die man nie herausbekommt. Ein Tampon ist in wenigen Sekunden entfernt.