35 Minuten Glück

Die Türen der Bahn öffnen sich. Pendler steigen aus, andere steigen zu. Die Klingel ertönt und ein paar Jugendliche quetschen sich hastig durch die sich schließenden Türen. Die Bahn ruckt kurz und fährt der nächsten Station entgegen. Ostbahnhof. Endlich. Dort steigt sie ein. Jeden Morgen. Außer, wenn sie Urlaub macht oder krank ist. Die meisten ihrer Krankheiten sieht er kommen. Dann fühlt er, dass es Zeit für sie wird, ein paar Tage zu Hause zu bleiben. Damit sie wieder richtig gesund werden kann. Doch ihren Urlaub konnte er noch nie voraussagen. Nicht einmal anhand der Ferienzeiten, denn auch nach denen scheint sie sich nicht zu richten. Also hat sie keine Kinder, schlussfolgert er. Zum Glück. Kinder wären ihm nicht recht. Nicht, weil er keine will. Wegen der Schwierigkeiten zu Beginn. Der Sympathien der Kleinen wegen, die mitentscheidend für das Gelingen der Beziehung sind. Sie hat nicht einmal einen Mann. Er ist sich inzwischen sicher. Keine Ringe. Dafür diese Sehnsucht im Blick. Ständig suchend, ob der Richtige in die Bahn kommt. Sie hat in der gesamten Zeit oft telefoniert. Doch nie war es so ein vertrautes Gespräch, bei dem sich die Stimme senkt und es ein zärtliches Getuschel am Ende gibt. Sie sucht, ganz eindeutig.

Sie kleidet sich immer modern und geschmackvoll. Jugendlich, aber doch mit Stil. Sie muss sein Alter haben. Knapp über dreißig. Er bekommt feuchte Hände und sein Puls beschleunigt sich. Nur noch wenige Sekunden, dann steigt sie zu. Wie jeden Morgen. Immer in dasselbe Abteil. In sein Abteil. In ihr gemeinsames Abteil. Ganz in seine Nähe. Seit über zwei Jahren geht das jetzt so. Er hat sie eingehend studiert und kennt jede Pore ihrer sichtbaren Haut, weiß um ihre Kleidung, um ihre Stimmungen, fühlt genau, wie ihr Tag war. Wie lange liest sie an einem Buch, welche Bücher liest sie? Er weiß es. Er kann sich in sie hineinfühlen. Nur er kann das.

Heute, hat er am Morgen bei der Rasur beschlossen, heute spricht er sie an. Er hat genau 35 Minuten Zeit, um ihr sein Herz auszuschütten, dann steigt sie aus. Dann kommt erst wieder der nächste Tag in Frage. Schon oft hat er sich vorgenommen, sie anzusprechen, doch es war nie der rechte Augenblick gekommen. Doch mit der Zeit keimte in ihm die Erkenntnis, dass dieser Moment nie perfekt werden würde, wenn er ihn von tausend Dingen abhängig macht. Mal war es das Wetter, dann der missgünstige Blick von einem der Fahrgäste oder aber sie schien ihm nicht in der rechten Stimmung für seine Offenbarung zu sein. Meistens war er es selbst nicht. Wie sollte er es auch sein? Schließlich kamen ihm Liebeserklärungen noch nie leicht über die Lippen und er hätte sich viel mehr darüber gefreut, wenn sie ihn angesprochen hätte. Mein Gott, sie hatte denselben Weg wie er! Sie kannte ihn mindestens genauso lang, vielleicht sogar genauso gut! Und warum tut sie dann nicht den ersten Schritt? Alte Schule? Er weiß es nicht und sieht gebannt, wie die S-Bahn in den Ostbahnhof einfährt. Langsam kommt die Bahn zum Stehen, die Menschen drängen aneinander vorbei und da! Ja, da kommt sie herein und sie sieht wieder einmal umwerfend aus. Ihr langes, blondes Haar ist frisch gewaschen und er weiß genau, wie es riecht. Sie wird auch ganz sicher ihr Lieblingsparfum verwendet haben. Das, von dem ihm immer schwindlig wird. Sie hat eine enge Jeans an und ein weißes Oberteil, das ihre unglaubliche Figur so sehr betont, dass er jedem Mann im Abteil die Augen ausstechen könnte, wenn er nur einen Blick auf sie wirft. Ihren Brustansatz kann er sofort sehen, doch übermannt ihn dieses Wohlgefühl nicht mehr so stark wie noch vor ein paar Monaten, insbesondere im Sommer. Jetzt pochen seine Adern auch, aber es ist eher wie ein freudiges Wiedersehen, als ein atemloses Erstaunen beim ersten Sehen. Sie setzt sich ihm gegenüber, schlägt die Beine übereinander und er sieht sofort, dass sie sein Lieblingsfußkettchen um ihre Fessel gelegt hat. Ein schlichtes, silbernes Kettchen ohne Anhänger, aber an ihrem Knöchel schimmert es Platin. Sein Puls beschleunigt sich noch einmal rasant.

Die Bahn fährt los und die Uhr beginnt zu ticken. 35 Minuten, dann wird sie aussteigen. Wie lange wird die Rede dauern? Es wird kein Minnesang werden, aber ein bisschen ausholen muss er schon. Zehn Minuten oder zwanzig? Und soll er das mittendrin machen oder noch die entsprechende Zeit warten, bis sie genau am Ende seiner Rede aussteigt? Wenn er sich verhaspelt, was dann? Wenn er durch etwas Unvorhergesehenes aus dem Konzept gebracht wird? Die Lage spitzt sich zu und schon sind die ersten fünf Minuten vergangen. Es bleibt ihm noch eine halbe Stunde. Komm, du schaffst das! Eine innere Stimme muntert ihn auf. Noch zögert er, ohne den Blick von ihr zu nehmen. Was, wenn er sich täuscht? Wenn sie ihm gar nicht zuhören will? Wenn sie trotz der langen, gemeinsamen Zeit gar nicht weiß, wer er ist? Wenn er sich getäuscht hat? In ihr, in seinen Empfindungen? Nein! Er weiß genau, dass sie es ist. Was spielen dann seine Zweifel noch für eine Rolle? Nur noch 25 Minuten, dann steigt sie aus. Inzwischen hat sie ein Buch genommen und liest darin. Ein letzter mentaler Ruck und er steht auf. Die Bahn wackelt und er hätte gern mehr Stand unter seinen Füßen. Er greift an die Haltestangen. Wackligen Schrittes geht er zu ihr, stellt sich vor sie und räuspert sich. Sie legt ihr Buch auf den Schoß, schaut aus ihren blauen Augen zu ihm auf, lächelt und sagt: »Ja, bitte?«

Er merkt, wie ihm die Kräfte schwinden, wie alle Kraft in ihm nachlässt. Da ist sie, ganz nah vor ihm. Zum Greifen nah. Heute kann es kein »zurück« geben! Leicht stotternd fängt er an.

»Wissen Sie, dass wir jeden Morgen zusammen in dieser Bahn fahren?«

Sie schaut ihn an. Noch immer aus diesen unglaublich blauen Augen. »Ja. Das weiß ich. Ich habe Sie schon oft gesehen. Und?«

Ihre Stimme, direkt an ihn gerichtet, verzaubert ihn völlig. Da ist ihr Kopf endlich vor ihm, das Haar, ihr Duft und der Klang ihrer Stimme. Ganz nebenbei sieht er, wie sich ihre Brüste beim Atmen heben und senken. Vielleicht ist es doch nicht der richtige Moment. Möglicherweise wird dieser nie kommen. ›Ich sollte mich auf meinen Platz setzen. Oder noch besser aussteigen‹, denkt er bei sich.

»Was wollen Sie denn sagen?«, hört er sie fragen. Schon wieder ein Blick aus diesen Augen. Er hat das Gefühl, als würde er mit der Erwiderung dieses Blickes Versprechungen abgeben, die er nie halten kann. Und als würde er gerade ertrinken. Einfach so, nur in ihrem Blick. Nicht bloß baden in einem Meer der Möglichkeiten, nein richtig ertrinken, aber wissen, dass er alles Wasser von ihr in sich aufnehmen will, bis er auf dem Meeresboden sinkt und dort glücklich liegen bleibt. Weil er weiß, dass er in ihren Augen alles gesehen hat, was es in seinem Leben wert ist, betrachtet zu werden. Zurück zu seinem Platz? Nein! Jetzt erst recht! Es kann gar nicht schief gehen.

»Sehen Sie, ich sitze nun schon zwei Jahre Ihnen gegenüber in der S-Bahn. Ganz genau genommen sind es zwei Jahre, drei Monate und acht Tage. Sie waren in dieser Zeit an 78 Tagen nicht in der Bahn. An den meisten dieser Tage waren Sie im Urlaub oder aber krank. Vielleicht sind Sie manchmal auch mit dem Taxi oder dem Bus gefahren, aber das glaube ich nicht. Letztes Jahr im Sommer hatten Sie einen heftigen Streit mit Ihrer Mutter, den Sie trotz eines versöhnlichen Abschieds am Telefon noch vier Tage mit sich herumschleppten, ohne dass es ihre Arbeitskollegen merkten. Keiner hat sich für sie interessiert, doch ich habe mit Ihnen gelitten, war immer bei Ihnen und dachte in dieser Zeit besonders oft an Sie. So sehr wie niemand sonst auf dieser Welt habe ich Ihnen gewünscht, dass Sie sich wieder mit Ihrer Mutter vertragen. Und mir fiel ein Stein vom Herzen, als endlich alles wieder gut war.

Ich habe noch nicht herausfinden können, wie das Parfum heißt, das Sie verwenden, obwohl ich in so vielen Parfümerien war und alles gerochen habe, was es dort gibt. Deshalb glaube ich, dass es nur auf Ihrer Haut so perfekt duftet. Dass Sie diesem Duft erst eine Seele einhauchen und Sie Ihrer Einmaligkeit auch damit Ausdruck verleihen. Denn ohne Sie wäre dieses Parfum nur ein Flakon voller Beliebigkeit und Normalität. Nur Sie machen ihn exquisit. Immer, wenn Sie bei Ihrer Arbeit etwas Wichtiges tun müssen, einen entscheidenden Termin haben oder aber ein Meeting mit Vorgesetzten, binden Sie sich Ihre Haare streng nach hinten. Das steht Ihnen sehr gut, aber das sind nicht Sie. Sie sollten auch in diesen Momenten Ihrer weiblichen Seite vertrauen und Sie sind wirklich eine ganz tolle Frau! Sie wirken dann immer etwas verkleidet, haben das doch aber gar nicht nötig. Sie sind klug, emotional, aufmerksam, empathisch und konsequent. Stehen Sie zu Ihrer Weiblichkeit und allem, was Sie ausmacht! Verkleiden Sie sich bitte nicht! Ich sehe ich hinter der Fassade, dass Ihnen etwas fehlt und dass Sie sich unglücklich fühlen. Dieses Gefühl haben Sie sehr oft und es setzt Ihnen zu. Ich kann mir vorstellen, dass Sie gut allein sein können, es aber nicht unbedingt sein wollen. Nun, was ich damit eigentlich sagen will ist, dass ich mir sehr wünschen würde, dass wir uns einmal außerhalb dieser Bahn hier treffen.«

Endlich ist der alles entscheidende Satz draußen. Da ist noch so viel mehr zu sagen, doch alle dafür notwendigen Worte stecken in diesem Kloß, der in seinem Hals immer größer wird. Sie schaut ihn mit großen Augen und halb offenem Mund an. Sie sieht dabei umwerfend schön aus. Die Zeit steht genau in diesem Moment still. Er sieht nur noch ihre Augen und um sie beide herum ist das Nichts. Keine Geräusche der Bahn, keine Stimmen, nur sie beide. Er klammert sich noch fester an die Stange, Schweißperlen laufen an seinem Rücken herab und der Gegenstand in seinem Hals wird mit jedem Atemzug größer, sodass er ganz sicher ersticken wird. Die Stille wird plötzlich durchbrochen.

»Ich muss jetzt hier raus«, sagt sie, während die Geräuschkulisse zurückkehrt, er die anderen Leute und die quietschenden Bremsen hören kann. Langsam kommt die Bahn zum Stehen.

»Nein, das müssen Sie nicht! Hier sind Sie noch nie ausgestiegen! Sie steigen erst viel später aus. So, wie jeden Tag!«

»Heute schon, glauben Sie mir!« Ihr Blick ist nun anders. Die Bahn steht inzwischen und die Türen haben sich geöffnet. Sie steht auf, drängt sich an ihm vorbei und steigt aus. Er fasst allen Mut zusammen und schreit ihr hinterher, schreit so laut, dass es das gesamte Abteil hören muss: »Merken Sie eigentlich gar nicht, dass sie jeden Tag mit dem Mann Ihres Lebens in der Bahn sitzen? Dass Sie niemand jemals so kennen wird, wie ich es tue? Dass Sie kein anderer Mann so lieben wird?«

Schon hat er sie aus den Augen verloren. Sie verschwindet spurlos in der Masse der Reisenden. Das Signal zum Einsteigen ertönt und er springt zurück in die Bahn. Die Türen schließen sich und die Bahn fährt los. Er lässt sich müde und enttäuscht auf ihren Platz fallen. Was war nur passiert? Warum rannte sie vor ihm weg? War etwas mit seiner Rede nicht in Ordnung? Er legt seine Stirn an die kühle Fensterscheibe und fährt bis zur Endstation und danach wieder nach Hause. Die ganze Zeit über ziehen die Häuser und Straßen nur schemenhaft an ihm vorbei. Sie ist weg! Er hat es vermasselt, ganz eindeutig. Arbeiten kann er heute nicht. Daheim angekommen, legt er sich auf das Bett und starrt die Decke an. So verbringt er auch den Tag danach. Er isst nur das Nötigste, trinkt und schläft. Unaufhörlich kreisen die Gedanken in seinem Kopf. Der Film ihrer Begegnung und seine Worte laufen in seinem ganz persönlichen Kino in einer Endlosschleife. Was ist falsch gelaufen? Er findet keine Antwort und er kann unmöglich noch einmal mit dieser Bahn fahren. Nie wieder! Er kann sie nicht wiedersehen. Was würde sie ihm sagen? Würde sie überhaupt da sein? Fragen über Fragen zermartern sein Hirn. Sie musste vor ihm weggelaufen sein! Denn wo musste sie denn an dieser Haltestelle sonst hin? Und wenn es dort etwas gab, warum gerade an diesem Tag? Sie war noch nie dort ausgestiegen! Möglicherweise hat sie jemanden kennengelernt. Ganz bestimmt gibt es da einen anderen. Ihm wird schlecht bei dem Gedanken an sie in den Armen eines anderen. ›Vielleicht hätte ich sie doch etwas früher ansprechen sollen‹, denkt er. Auch am nächsten Tag geht er nicht zur Arbeit. Am folgenden auch nicht. Die Tage vergehen und er verlässt nicht einmal mehr das Haus. Er isst und trinkt nichts mehr. Nachts liegt er wach, weil er nur in ihre blauen Augen schaut und tagsüber kann er nicht schlafen, weil er immer wieder sieht, wie sie vor ihm davon rennt. Er fühlt sich schlapp und kann nicht mehr aufstehen. Jede Bewegung schmerzt und in der Wohnung scheint es ihm inzwischen immer dunkel zu sein. Mit den Gedanken an sie, dem Gefühl eines Lächelns aus ihren Augen und ihrem Duft in der Nase schläft er ein. Zwei Wochen später verständigen die Nachbarn die Polizei, weil es aus der Wohnung unangenehm riecht. Er wird mit einem sehr friedlichen Gesichtsausdruck gefunden. Sie legen ihn in einen Sarg und tragen ihn weg.

Sie fährt jeden Tag mit der Bahn. Wenn sie ihren Arzttermin nicht gehabt hätte, wäre Zeit geblieben, mit ihm zu sprechen. Ihm für all das zu danken, was er ihr gesagt hat. Sie muss lächeln, wenn sie ihn wieder vor sich sieht, als er gestammelt hat wie ein kleiner Junge, aber trotzdem mutig wie ein richtiger Kerl war. Sie ist jeden Tag in diese Bahn eingestiegen und hat nach ihm Ausschau gehalten. Konnte sie sich irren, ihn übersehen? Nein, unmöglich! Auch heute Morgen schaut sie wieder auf seinen Platz. Er ist leer. Wie so oft in den letzten Tagen. Sie weiß noch genau, wie er aussieht und wie er riecht. Und dass er die Füße beim Reden verdreht hat. Dass er fast keine Luft geholt hat und dass sie ihn hätte küssen können. Doch sie musste zu diesen Termin! Manchen Tag ärgert sie sich, dass sie ihn nicht vorher angesprochen hat. Aber an der Stelle ist sie etwas altmodisch. Das ist Männersache. Während sie auf seinen Platz schaut und wieder an ihn denkt, überkommt sie ein warmes Kribbeln, das sich in ihrem Bauch einnistet und von dort in ihren Körper strahlt. Sie lächelt und fühlt es ganz sicher. Eines Tages wird er wieder dort sitzen. Und dann fangen sie endlich an, gemeinsam zu leben. Einfach so.