Das Methusalem-Kompott

Das war ein Sonntag nach meinem Geschmack! Ich hatte lange ausgeschlafen und war danach bis kurz nach zwei bei einem wunderbaren Brunch. Wieder zu Hause angekommen, legte ich mich aufs Sofa und las etwas. Zwischendurch surfte ich um zu schauen, ob meine Chat-Bekanntschaft »wild_vampire« wieder online war. Doch sie mied meinen Kontakt in letzter Zeit. Wahrscheinlich überlegte sie, ob mein Vorschlag des Realtreffs nicht doch unserer intimen Beziehung schaden könnte. Dabei hatte ich mir schon einiges ausgemalt, was wir in die Tat umsetzen können, von all dem, worüber wir bis dahin nur geschrieben hatten. Und ein Ziel musste es auch geben, denn die Anbindung zu ihr war nicht kostenlos. Ich döste mit unzüchtigen Gedanken an meinen Vampir noch etwas vor mich hin, bis ich vom Klingeln an der Wohnungstür in die Realität zurückgeholt wurde.
Als ich die Tür öffnete, war ich überrascht. Frau Köpfe stand da. Die Rentnerin, die über mir wohnte. Alt, stolz und irgendwie kauzig. Gefühlte hundertzwanzig Jahre alt, tatsächlich aber sportliche siebzig. Das graue Haar war immer gepflegt gebürstet und zu einem Pferdeschwanz gebunden, das Gebiss tadellos gereinigt und Oil of Olaz müsste bei ihrer Haut nicht mehr nach einem Testimonial suchen. Einziges Manko waren ihre Augen, die bei „Unser Star für Baku“ gewinnen würden. Deshalb trug sie eine etwas überdimensionierte Brille, deren Gläser mich an optische Versuche im Physikunterricht erinnerten.
Bis vor ein paar Jahren wohnten ihr Mann und ihr Sohn noch bei ihr. Doch der Sohn war mit Mitte vierzig endlich alt genug, sein warmes Nest zu verlassen und ihr Mann starb kurz darauf. Ihr schien der Verlust ihrer Männer nichts anhaben zu können. Sie strahlte immer einen gewissen Optimismus aus, der mir das Gefühl gab, dass es gar nicht so schlimm sein konnte, alt zu werden.  Naturgemäß regte sich in ihrer Wohnung wenig. Ich hatte ein ruhiges Leben unter ihr und wäre in meinen Kreisen nur gestört worden, wenn ihre Kekskrümel plötzlich zu Kanonenkugeln angeschwollen wären oder aber ihre Teelöffel Glockenschläge in den Tassen vollführt hätten. Von ein paar Ermahnungen ob der von mir nicht peinlichst genau verfolgten Einhaltung der Hausordnung abgesehen, kam ich mit ihr und der Ruhe, die sie ausstrahlte, hervorragend klar. Nun stand sie vor mir. In der rechten Hand hielt sie einen Teller mit einem Stück Kuchen, in der linken ihren Wohnungsschlüssel und ein Schälchen Birnen-Kompott. In ihrem Gesicht klebte ein faltiges Lächeln, als gäbe es etwas zu feiern.
»Hallo, Sie haben gebacken und ein Kompott gezaubert? Das ist aber schön!« sagte ich freundlich.
»Ja, echten Zupfkuchen. Nicht so ein Zeug aus der Packung, wie Sie es wahrscheinlich haben, wenn überhaupt! Hier, riechen Sie mal!«
Frau Köpfe schob mir den Teller vor mein Gesicht und ein wunderbarer Duft stieg in meine Nase.
»Oh, das riecht toll! Der schmeckt sicher auch so, oder?«
Gerade als ich das gute Stück greifen wollte, zog sie es zu sich heran und blinzelte verschwörerisch. »Natürlich schmeckt der Kuchen. Und das Kompott ist ein Traum, für den man sterben möchte. Und überlegen Sie sich diesen Satz aus dem Mund einer alten Frau! Doch umsonst gibt es nichts im Leben, glauben Sie mir! Sie könnten mir im Gegenzug einen kleinen Gefallen tun.«
Was tut man nicht alles für ein Stück Kuchen und ein Schälchen Kompott, die an Kindheit, Heimat und Geborgenheit erinnern?
»Womit kann ich denn dienen?«, fragte ich deshalb.
Als wäre dies der Startschuss für einen Crosslauf, sprang sie über die Türschwelle, umkurvte gekonnt das Bücherregal im Flur und steuerte so routiniert in mein Wohnzimmer, als würde sie dies jeden Abend nach Arbeitsschluss tun. Nicht zuletzt meisterte sie alles mit Kuchen und Kompott. Wahrscheinlich war sie in ihrer Jugend die absolute Göttin im Eierlaufen. Ich folgte ihr und begann zu stottern:
»Ähm, Frau Köpfe, was machen Sie da?«
»Ich will es mir nur ein wenig bequem machen!«
Sie saß in meinem Sessel und durchmaß den Raum mit kritischem Blick.
»Sie sollten mal wieder einen Staubwedel in die Hand nehmen. Und lüften wäre auch nicht schlecht. Aber deshalb bin ich ja nicht hier.«
Endlich stellte sie den Kuchen und das Kompott zu mir. Ich hatte mich gerade ihr gegenüber gesetzt.
»Also, mein Sohn ist ja nun leider schon ausgezogen. Er kann mich auch nicht so einfach mal besuchen, dafür wohnt er zu weit weg. Es ist aber so, dass ich nur noch ihn habe und sonst niemanden. Wissen Sie eigentlich, dass er Programmierer bei SAP ist?«
Mein Hirn schaltete um auf den Erinnerungsmodus und vor meinem geistigen Auge entstand das Bild eines blassen Langweilers, der bei Mama wohnte und der sich von Tiefkühlkost ernährte, seitdem er bei ihr ausgezogen war. Seine sozialen Kontakte beschränkten sich auf das Internet und der Besuch beim Friseur war die einzige Möglichkeit, Kontakt mit weiblichen Händen zu bekommen.
»Ja, ich erinnere mich an ihn! Zu schade, dass er weggezogen ist!«, log ich, während ich den ersten Bissen des Kuchens genoss. Dass die bei SAP einen solchen Vollpfosten genommen hatten, konnte ich kaum glauben.
»Jedenfalls unterhalten wir uns jeden Tag!«, sagte sie ganz aufgeregt und selbst durch die starken Brillengläser konnte ich sehen, dass in ihren Augen mütterlicher Stolz blinkte.
»Ach nein, Frau Köpfe! Dann haben Sie aber eine dicke Telefonrechnung!«
»Wie kommen Sie denn darauf? Wir skypen und mailen uns. Ich habe sogar eine eigene Email-Adresse. Doris Punkt Köpfe äd Tee minus Online Punkt De Ee! Und Köpfe mit oe.« Sie sah mich an, als wäre sie Cortez und hätte mir Eingeborenen soeben glänzende Perlen geschenkt.
»Nein!«, erhob ich erstaunt die Stimme, »was Sie nicht sagen, Frau Köpfe! So richtig mit Email und dem Internet sind Sie mit Ihrem Sohn verbunden. Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut!«
»Tja, ich bin nicht so rückschrittlich, wie ich in Ihren Augen aussehe. Von wegen, die alte Schrulle glotzt nur auf die Hausordnung und liest die Apothekenrundschau! Unterschätzen Sie uns alte Menschen nicht. Nun aber zur Sache, junger Mann! Den Kuchen und das Kompott bringe ich ja nicht einfach so mit. Ich habe ein technisches Problem und mein Sohn ist leider nicht erreichbar. Könnten Sie bitte mal ein Auge auf meinen Computer werfen, damit ich wieder mit meinem Kleinen sprechen kann?«
Gerade hatte ich das letzte Stück Kuchen eingeworfen und bereits die ersten beiden Löffel Kompott intus. Deshalb fühlte ich eine gewisse Verpflichtung Frau Köpfe und ihrem Wohlergehen gegenüber.
»Klar doch. Ich helfe ihnen.«
Wir gingen gemeinsam im Schneckentempo nach oben. Frau Köpfe verwies auf ihr künstliches Hüftgelenk und das Wasser in ihren Beinen. Sonst fühle sie sich aber noch fit.
Der Computer war ein High-End-Gerät mit einem 24-Zoll-Bildschirm.
»Alle Achtung, Frau Köpfe! Eine irre Hardware haben Sie da!«
»Mag ja sein, aber der Computer ist auch nicht schlecht! Schauen Sie sich vor allem einmal den Fernseher an! Riesig, oder?«
Ich sagte gar nichts und schaltete das Gerät ein. Der Computer fuhr hoch und ich versuchte, die Verbindung ins Internet herzustellen. Es ging nicht.
»Haben Sie schon alle Kabel untersucht?«
»Welche Kabel? Ich dachte, ich bin im Internet?« Sie schaute mir mit ihren riesig wirkenden Augen direkt ins Gesicht.
»Sie haben da übrigens noch Kompott am Kinn.«
Sie reichte mir ein Taschentuch und ich wischte mir ihr Geschenk aus dem Gesicht.
»Vielen Dank, Frau Köpfe. Ich schaue jetzt trotzdem einmal nach den Kabeln.«
Der erste Blick unter den Tisch genügte. Das DSL-Kabel steckte nicht im Rechner. Ich behob den immensen Schaden, kam wieder unter dem Schreibtisch hervor und klickte auf die Internetverbindung.
»So, nun müsste es wieder gehen.«
Ein Fenster nach dem anderen ploppte auf.
»Huch, was haben Sie denn da?«
Frau Köpfe wurde rot. »Ach das!? Nichts weiter. Nur ein kleiner Zuverdienst. Wissen Sie, meine Rente ist ja nicht so üppig.«
Dann wurde ich rot. Über dem letzten Fenster stand es deutlich: Chat4U, Username »wild_vampire«. Darunter unser Chat von letzter Woche.
Wir waren bloß wegen eines dämlichen Kabels getrennt. Und das Treffen in Echtzeit hatte ich nun endlich auch.

Apokalypse 2012

»Ihr werdet alle sterben«, sagt der Seminarleiter und schaut uns mit weit herausstehenden Augen an. Sein Gesicht ist zu einer Fratze verzerrt. Wir glauben es ihm sofort. Wir werden alle sterben. Unser neues Mantra.
»Doch«, hebt er an, »es gibt eine Rettung vor dem sicheren Ende!«
Ein Trommelwirbel ertönt, das Licht im Saal erlischt und in einem Spot erscheint neben ihm eine Halbliterflasche Zaubertrank. Der Messias stellt sich ins Licht und schwadroniert mit neuem Elan. Mit diesem Getränk werden wir überleben. Zweihundertfünfzig Euro müsse uns das Überleben wert sein, wenn es nicht schon die Seminargebühr von hundert war. Es ist mein drittes Seminar innerhalb von zwei Wochen. In der letzten Woche war ich Gast bei einer traurigen Veranstaltung bezüglich des sicheren Endes im Jahr 2012. Und ich legte all mein Geld in Gold an, nachdem ich erfahren hatte, dass es eine Währungsreform geben wird. Nur die Unsicherheit ist noch sicher. Es geht zu Ende. Die Apokalypse ist nah und jeder sollte sich darauf vorbereiten. Mein Keller ist inzwischen prall gefüllt mit Dosenravioli und Wasser für mehrere Jahre. Für hohe Feiertage habe ich Schmalzfleisch eingelagert. Die Goldbarren liegen auf der Bank, aber die schaffe ich auch noch in meinen Keller. Zum Glück bin ich routiniert in Weltuntergängen. Ein neuerlicher wird mich nicht umwerfen. Als ich in der fünften Klasse erfahren habe, dass mich meine Deutschlehrerin nicht liebt, ging zum ersten Mal die Welt für mich unter. Es war schrecklich und ich hatte nicht einmal einen Keller. Auch keine Goldbarren. Sie hat es mir nicht gesagt. Nur so nebenbei hat sie es mich spüren lassen, mich lange gequält, diese Schlange. Das ist wie ein Weltuntergang auf Raten. Wie Apokalypse in der Directors-Cut-Version. Es zieht mir schon wieder im Magen, wenn ich an sie denke. Ich hätte ihr den Himmel auf Erden geboten und ganz sicher wäre diese Welt heute nicht dem Untergang geweiht, wenn es in der Geschichte nicht so viele Frauen wie sie gegeben hätte.
Der Seminarleiter lobt ausschweifend die Vorteile seines Zaubertranks. Man überlebt nicht nur. Man bleibt agil und wird steinalt. Ich lehne mich zurück und beginne zu träumen.
Ich sehe mich kerngesund in meinem Keller hocken. Montag bis Samstag esse ich Dosenravioli und am Sonntag Schmalzfleisch. Nachgespült wird mit dem edlen Gebräu. Weil ich unendlich fit bin, hebe ich zur Körperertüchtigung die Goldbarren wieder und wieder hoch. Die Welt ist untergegangen, aber in einem einsamen Keller hockt ein völlig fitter, alter Sack. Dann und wann schaue ich aus meinem Fenster, ob die Welt wieder begehbar ist.
Jahre später krieche ich aus meinem Loch. Die Welt ist nicht mehr die, die sie einmal war. Aber dafür treffe ich mehr Leute als ich dachte. Clevere Menschen, die rechtzeitig in ihren Kellern Vorräte gehortet hatten. Und die sich mit dem Zaubertrank am Leben hielten. Ich treffe einen Mann, der auf Erbsensuppe mit Rauchfleisch gesetzt hat. Er heißt Guido und sieht richtig gut aus. Gemeinsam erkunden wir die Umgebung. Je mehr wir von unserer alten Welt sehen, desto trauriger wird es. Die Apokalypse war tatsächlich da. Und die Mahner hatten alle recht. Es begann zunächst scheinbar harmlos. Erst regierten uns Schwule und Frauen. Dann glaubten Griechen und Spanier, sie würden etwas von Wirtschaft verstehen. Später kam die globale Erwärmung, gefolgt von der neuen Eiszeit. Und schließlich brach alles zusammen. Keine Wirtschaft mehr, keine Banken und kein Arbeitsamt. Der unerleuchtete Teil der Welt wollte hektisch in Dosen flüchten, doch es gab keine mehr. Denn Menschen wie Erbsen-Guido und ich waren schlauer.
Wir freuen uns über unsere Voraussicht. Und darüber, dass wir kein Weltuntergangsseminar verpasst hatten. Wir gehören zu den Gewinnern. Vor allem aber bringt unsere Begegnung eine erfreuliche Abwechslung. Alle zwei Tage esse ich nun Erbsensuppe mit Rauchfleisch und Erbsen-Guido genießt Ravioli. Schmatzend und zufrieden sitzen wir über unseren Dosen, als Guido fragt: »Was machen wir eigentlich mit unseren Goldbarren?«
»Keine Ahnung! Vielleicht können wir sie gegen Dosenpfirsiche eintauschen.«
»Oh ja«, sagt Erbsen-Guido anerkennend, »Obst wäre wirklich toll. Vor allem bräuchten wir dann diese verflucht schweren Dinger nicht mehr mit uns rumzutragen.«
»Jetzt brauchen wir nur noch einen Idioten, der uns die Dinger abnimmt.«
»Vielleicht sollten wir ein Seminar halten. Der Aufschwung wird kommen! Tauscht Dosen in Gold!«
»Hört sich richtig gut an«, meine ich schmatzend. Dann essen wir weiter und sagen nichts mehr. Schweigen ist die Währung der neuen Welt. Und wir sind stinkreich. Später laufen wir durch ein verwahrlostes Land und wenn wir unseren Zaubertrank nicht hätten, würden wir grausam verrecken. Unsere Goldbarren können wir einem armen Irren gegen eine Palette Dosen mit gekochtem Rindfleisch verhökern.
Ich muss wohl eingeschlafen sein. Der Seminarleiter steht vor mir und schüttelt mich.
»Sie haben die Ruhe weg, was? Die Welt wird untergehen und Sie pennen hier ein!«
Müde blinzele ich ihn an. Wenn ich noch Geld hätte, würde ich dem Typen glatt ein paar Kisten Zaubertrank abkaufen. Nur so zur Sicherheit. Wenn mir das Schmalzfleisch irgendwann auf den Magen schlägt. Doch die Vision der überlebten Apokalypse gefällt mir gar nicht. Also verlasse ich den Saal und fahre nach Hause. Während ich den Schlaglöchern auf den Straßen ausweiche, wird es mir klar. Als erstes sollte ich meinen Keller ausbauen. Baustoffe könnten demnächst knapp werden.