Hallo Herr Dr. Schäuble, hier spricht Mark

Sehr geehrter Herr Dr. Schäuble,

ich möchte mich heute mit einem offenen Brief an Sie wenden, weil ich für mich Gewissheit haben will. Es soll also keine Anklage sein, auch nicht ein vorwurfsvolles Pamphlet eines missverstandenen Steuerbürgers, nein, ich will nur Klarheit für mich. Schauen Sie, Herr Dr. Schäuble, ich habe nämlich ein Problem mit mir. Nach Ihrer Vorstellung des Bundeshaushalts und Ihrer Zukunftsvisionen habe ich dieses Diagramm auf der Homepage des Bundesfinanzministeriums gefunden:

Das Diagramm zeigt den künftigen Bundeshaushalt der Jahre 2011 bis 2015. Nicht zu bunt, nein dezent und solide im Layout können wir Steuerbürger sehen, dass es aufwärts geht. Aufwärts? Nein. Abwärts natürlich. Zumindest mit der Neuverschuldung. Und genau hier liegt mein Problem, Herr Dr. Schäuble. Seit Ihrer Meldung leide ich an Größenwahn. Und wissen Sie warum? Weil ich das Gefühl habe, dass ich der einzige Steuerzahler bin, der eine Stimme im Off hört, die ihm zart und ängstlich flüstert: »Das ergibt keinen Sinn! Fünf Jahre hintereinander Schulden sind noch immer kein Guthaben, es sind und bleiben für alle Zeit Schulden. Denk darüber nach, mein lieber Mark, denk darüber nach!«
Da ich weder aus der Presse noch aus dem Netz kritische Stimmen dazu vernehmen kann, mache ich mir nun nicht mehr nur um Ihren Haushalt Sorgen, Herr Dr. Schäuble, sondern auch um meinen Gemütszustand. Besonders zerreißt mich die Gewissheit, dass Sie als nicht plagierender Dr. der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften unmöglich einen Kokolores dieser Art verbrochen haben können. Schauen Sie sich doch einmal in Ihren Reihen um, Herr Dr. Schäuble! Gibt es Neider? Stühlesäger? Karrieristen, die Sie auf den Guttenberg schießen wollen? Irgendwelche Idioten, die Ihnen diesen Schwachsinn untergejubelt haben, ohne dass Sie die Zeit hatten, nachzurechnen? Nein? Nun, Sie werden gleich erkennen, warum man Sie geleimt haben muss.
Schauen wir uns Ihre Rechnung einmal an. Sie machen im ersten Jahr 2011 neue Schulden in Höhe von 48,4 Mrd. Euro. Soll ich Ihnen diese Zahl einmal ausschreiben? Haben Sie die Größenordnung noch visualisierbar? Ein Tipp: Selbst in ganz großen Scheinen passt dieses Sümmchen in kein Portemonnaie. Im zweiten Jahr verkaufen Sie uns einen grandiosen Fortschritt: Nur noch 31,5 Mrd. neue Schulden!! Doktoren der Mathematik könnten jetzt im Fernsehen mit Gelehrtenfratze vorrechnen, dass hier prozentual sogar ein enormer Schritt nach vorn gemacht wurde.
Aber hier spricht diese blöde Stimme schon wieder zu mir, Herr Dr. Schäuble! Was mache ich nur? Können Sie mir nicht helfen? So ganz einfach von Mann zu Mann? Denn ich werde einfach diese Vision nicht los:

Ich bin ein Unternehmer und habe eine kleine Firma mit drei Angestellten. Wir arbeiten fleißig und zahlen an alle, die etwas von uns haben wollen: Finanzamt, Rentenversicherung, Krankenkassen, Berufsgenossenschaft, Künstlersozialkasse, Industrie- und Handelskammer, GEZ und all die anderen Wegelagerer, die uns zwar das Leben schwer machen, es uns aber doch nicht restlos vermiesen können. Irgendwann einmal merke ich, dass das Geld hinten und vorne nicht reicht. Die Kosten sind zu hoch, die Umsätze zu klein. Also vereinbare ich einen Termin bei meiner Bank.
»Hören Sie, das haut hinten und vorne nicht hin, ich brauche Geld!«
Die Bankbearbeiterin sagt freundlich zu mir: »Das ist gar kein Problem, lieber Herr Jischinski. Schauen Sie, hier habe ich 100.000 Euro für Sie. Die bekommen Sie als Darlehen und dann sollte es doch klappen, oder?«
Erfreut willige ich ein und verlasse die Bank. An meinem Unternehmen ändere ich nichts. Klar erhöhe ich meine Preise, denn schließlich muss ja nun auch noch die Bank bezahlt werden, aber das Gute ist, dass ich mit dem vielen Geld von der Bank zum Teil auch die Raten zahlen kann.
Am Ende des Jahres merke ich, dass die Kohle schon wieder alle wird. Weil es beim letzten Mal so gut geklappt hat, vereinbare ich einen Banktermin.
»Hallo Herr Jischinski, schön, Sie wieder zu sehen! Und, wie läuft Ihr Unternehmen?« Meine Banktante ist wirklich ein Ausbund von Freundlichkeit und optisch, Herr Dr. Schäuble, holla, die Waldfee! Sie sollten sie einmal ganz real sehen.
»Prächtig«, sage ich ihr, »es geht prima aufwärts, und wenn Sie mir dieses Jahr mit einem Kredit aushelfen könnten, wird es sogar ein überaus positives Ende nehmen. Weil ich so gut gewirtschaftet habe, komme ich in diesem Jahr schon mit 80.000 Euro hin.«
Meine Bankbearbeiterin streicht sich gefühlvoll eine Locke aus der Stirn, lächelt und sagt: »Schauen Sie, das habe ich mir schon gedacht. Sie brauchen nur hier zu unterschreiben, und dann haben Sie das Geld morgen auf dem Konto.«
Erwartungsgemäß ist die Kohle am nächsten Tag da. Sie kommt auch wie gerufen, denn ich muss eine Rate vom Kredit des letzten Jahres zahlen. Das war wirklich eng! Ich erhöhe wieder einmal meine Preise, stocke bei der Gelegenheit den Lohn der Mitarbeiter auf, kaufe neue Möbel fürs Büro und mir ein Laptop. Nach den Anstrengungen der Investitionsphase fahre ich mit meiner Familie für drei Wochen in den Urlaub. Mit neuer Kraft gesegnet, stürze ich mich danach in die Arbeit und es wird wieder ein fulminantes Jahr! Wenn ich von meiner Bankbearbeiterin in diesem Jahr gerade einmal 50.000 Euro bekomme, steht hinten eine schwarze Null. Trotz der erhöhten Ausgaben!
»50.000 Euro?? Herr Jischinski! Das ist ja unglaublich! Bei Ihnen geht es ja richtig aufwärts! Wenn Sie so weiter wirtschaften, brauchen Sie ja bald kein Geld mehr von uns!«
Ich schaue meine Bankbearbeiterin an und sage: »Man muss eben wissen, wo der Hase langläuft!«
»Sie sagen es, Herr Jischinski, Sie sagen es! Und offenkundig haben Sie einfach ein gutes Näschen fürs Wirtschaften. Wenn wir doch viel mehr Unternehmer wie Sie hätten!«
Erfreut verlasse ich die Bank, gehe ins Büro und erhöhe wieder einmal die Preise. Die Kundschaft mault schon ein wenig, aber, lieber Herr Dr. Schäuble, ich kann mir das leisten, weil ich etwas anbiete, das sonst keiner hat. Das nennt man Monopol. Ist wie bei Ihnen die Sache mit der Steuer. In diesem Jahr merke ich erstmals, dass es eng wird. Die Zinsen für meine kleinen Kredite zehren ganz schön am Ergebnis und dann und wann wird es mit der Rate knapp. Scheinbar sind die Kosten doch zu hoch und die Umsätze noch immer zu niedrig. Da ich schon eine Preiserhöhung hinter mir habe und die Kosten einfach unmöglich noch kleiner gehen, bleibt nur ein Ausweg: Die Bank!
»Schauen Sie, im Grunde sieht alles ganz gut aus und ich habe auch genau nachgerechnet. Wenn ich in diesem Jahr einen Kredit von 30.000 Euro bekomme, dann sollte es ein grandioses Jahr werden.«
Meine Bankbearbeiterin sieht mich betreten an. Tränen schießen in ihr hübsches Gesicht. Sie tupft sich diese mit einem Taschentuch weg. Da kommt bei mir immer ein bisschen der Beschützer durch, müssen Sie wissen, Herr Dr. Schäuble.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, frage ich besorgt.
»Doch, doch«, sagt sie schluchzend, »es ist nur so, dass ich das kaum glauben kann. Kann ich Sie…«, ein lautes Schnäuzen unterbricht ihren Satz, »…nicht endlich als Unternehmer des Jahres vorschlagen? Sie sind immer so bescheiden und Sie wirtschaften so grandios. Ich habe auch schon beim Vorstand ein gutes Wort für Sie eingelegt. Es gibt wirklich nur wenige Selbständige, die so gut mit Geld umgehen können wie Sie.«
Sie legt mir ihre linke Hand auf meine rechte. Mit großen Augen schaut sie mich an und fährt fort. »Wissen Sie, es gibt Neider. Selbst hier, in unserem Haus. Man hat geglaubt, Sie würden diesen phantastischen Weg nicht weitergehen können und Sie würden dieses Jahr nicht zu mir kommen. Aber nein, Ihr Unternehmen wächst stetig und wird immer besser. Aber, soll ich Ihnen nicht lieber noch einmal 50.000 Euro geben, gern auch einhundert?«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sage ich, während ich meine Hand unter ihrer hervorziehe, »aber wir sollten nicht vom Weg des Erfolgs abgehen. Die dreißig sind völlig in Ordnung.«
Auch in den folgenden Jahren bleibt mein Laden auf gutem Kurs. Ich nehme sogar pro Jahr nur noch 20.000 Euro an Krediten auf. Wenn ich dieses tolle Unternehmen im nächsten Jahr auf meine Kinder übertrage, werden sie vor lauter Freude sicher gleich platzen.

Sehen Sie, Herr Dr. Schäuble, ich habe immer wieder hin und her gerechnet und bin zu folgendem Schluss gekommen: Schulden bleiben Schulden. Brauchen Sie noch ein paar andere Wahrheiten? Die Zinszahlungen für Kredite sind der größte Einzelposten im Bundeshaushalt. Rentenzahlungen der Arbeitnehmer sind keine Rücklagen für die eigenen Renten, sondern dringend notwendige Zahlungen für die derzeitigen Rentner. Für die immer mehr werdenden pensionierten Beamten wurden nicht genügend Rücklagen gebildet. Die Steuerzahler von heute müssen die Kosten für die eigenen Kinder aufbringen, die eigene Altersvorsorge aus eigenen Mitteln schaffen, die öffentlichen Schulden bedienen und die Rentner, also die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe, durchfüttern. Soll ich diese bekannten Fakten fortführen? Wohl besser nicht. Fragen Sie doch einfach einmal in Ihrem Ressort nach, Herr Dr. Schäuble. Der eine oder andere sollte so etwas wissen.
Aber was passiert, wenn Sie so etwas wie die Grafik ganz oben dem Volk präsentieren? Aufstand, Aufschrei, Rebellion? Nein! Nichts passiert. Es ist normal und ich glaube inzwischen, dass nur ich es nicht normal finde. Mal ehrlich, Herr Dr. Schäuble, kann doch nicht sein, oder? Wir verkaufen uns für die nächsten fünf Millionen Jahre, keiner merkt es und alle machen mit? Echt jetzt? Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben.
Nur gut, dass mir meine innere Stimme eine sinnvolle Antwort gibt. Wer so wirtschaftet, wie Sie das tun, Herr Dr. Schäuble, wie es unser Land, wie es die Welt tut, hat keine Verantwortung gegenüber den nächsten Generationen. Wir vererben Schulden, die eine so utopische Höhe erreicht haben, dass sie niemand je zahlen kann, aber leider auch niemand mehr in Frage stellt. Die Geschichte der Geldpolitik seit dem 19. Jahrhundert zeigt, dass wir nach allen Zäsuren immer wieder genau dasselbe gemacht haben. Wissen Sie, Herr Dr. Schäuble, was das war? Ich sage es Ihnen gern. Wir haben aufgebaut, Schulden gemacht, mehr Schulden gemacht und noch mehr Schulden gemacht. Dann kamen Wirtschaftskrisen. Und dann kamen die Katastrophen. Da wir aus allem nichts gelernt haben, ist unser Ziel eindeutig. So, Herr Dr. Schäuble, mir geht es jetzt insofern besser, dass ich es mal gesagt habe und einen kleinen Weg der Erkenntnis gegangen bin. Sie müssten eigentlich eine Bankbearbeiterin wie oben beschrieben kennen, denn von irgendwoher muss die Kohle ja kommen. Grüßen Sie sie von mir. Ich kann leider nicht persönlich kommen, denn ich habe in den nächsten Tagen zu tun. Es wird mir sehr schwer fallen, die Gewissheit, was die Zukunft bringen wird, meinen Kindern zu erklären. Schade, dass Sie nicht da sind. Sie können Unheil furchtbar positiv rüberbringen.